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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Abständen auf immer länger eingesperrt, von ihnen entfernt gewesen. Dabei habe sie ihren Bruder immer geliebt; eine Zuneigung, die sie sich selbst nicht erklären könne, habe sie auch heute noch für ihren Bruder. Oft wäre er tagelang zu Hause in der gutmütigsten Stimmung gewesen, dann aber blitzartig zu dem Tier geworden, als das er ihr oft in der Nacht erscheine. Sie könne über ihren jetzt fünfunddreißigjährigen Bruder »überhaupt nichts Gutes« berichten, wenn sie nachdenke, zuschauen müsse in ihrem Gedächtnis, wie er sie fortwährend auf die niedrigste Weise und schon als um zwei Jahre jüngeres äußerst schutzloses Schulkind behandelt habe, immer miß handelt habe, mit den Jahren und mit seiner ununterbrochenen »entsetzlichen Körper- und Geistesentwicklung« immer gröber, immer »ungeheuerlicher«, müsse sie schweigen; sie dürfe nicht an ihre gemeinsame Schulzeit, an ihre gemeinsame Lehrzeit, an die Zeit, in welcher sie in die Gerberei, er in die Zimmerei gingen, denken. Aus dem Hinterhalt seiner Unzurechnungsfähigkeit habe er ihr eine Reihe von zum Teil ihr ganzes Leben beeinträchtigenden Körper- und Geistesschäden zugefügt. Unter seinen Drohungen gegen sie war sie einen Großteil ihrer Kindheit und Jugend ihrer ganzen Umgebung gegenüber auffallend schweigsam geblieben. Wenn sie nur an »die Nacht hinter dem Bahnhof« denke (»Damals bei der Saline!«) – ich verhinderte, daß sie sich näher erklären mußte – sei es ihr unverständlich, daß sie sich jetzt (»aber vielleicht aus Angst vor ihm?«) für ihn, der ihr Leben »systematisch zertrümmert« habe, einsetze. (»Uns alle hat er ruiniert!«) Überhaupt komme es ihr unheimlich vor, daß sie jetzt vor mir stünde, um für ihren Bruder zu bitten; aber sie bitte »inständig«, ich möge ihn jetzt, »wo er so verlassen ist«, nicht abweisen. Sie sei nur vorsichtshalber zuerst zu mir heraufgekommen, ihn ankündigen; sie müsse in einer knappen Stunde wieder mit dem Postautobus nach Vöklabruck zurück, wo sie »schon seit vier Jahren«, weil sie, nach WinklersVerbrechen, seiner Verhaftung und schließlich Verurteilung in Ischl »nichts mehr zu suchen, nichts mehr zu leben« gehabt habe, angestellt sei. Ich erkundigte mich, ob ihr Auskommen in Vöklabruck gut sei, und sie bejahte. Es sei ihr durch Gewaltakte Winklers, die schon mehr als zehn Jahre zurückliegen, unmöglich, ein Kind zu bekommen. Sie machte aber darüber nur eine mich sehr beunruhigende Andeutung. Jeden Abend in den letzten Tagen habe er, dem seine vorzeitige Entlassung aus Garsten selber eine Überraschung (»eine unangenehme!«) gewesen sei, vor der Gerberei auf sie gewartet und sie abgeholt. Sie habe den Anblick ihres Bruders, der »schmutzig und widerwärtig« tagtäglich vor fünf vor der Gerberei auf und ab ging, nicht aushalten können. »Wie ich mich geschämt habe«, sagte sie. Ohne Geld (»Er hat alles, was er sich erspart gehabt hat, versoffen!«) sei er plötzlich, ohne Ankündigung, »keine Karte, nichts«, auf einmal bei ihr erschienen. Sie wohne außerhalb von Vöklabruck, »im Graben«, sagte sie, als ob das ein Begriff sei. »Er hätte oft schreiben können«, meinte sie, aber er hat nicht geschrieben. Sie sprach von einem Ausbruchsversuch, von einem Komplott in der Anstalt, dem er sich aber nicht angeschlossen hat, das habe seine Entlassung beschleunigt. Sie hätte ihn nicht in ihr Zimmer gelassen, wenn sie nicht Angst gehabt hätte, »er ist ja nicht allein gekommen, sie waren zu zweit«, sagte sie; der zweite aber sei sofort wieder verschwunden und nicht mehr aufgetaucht. Winkler habe schon immer, »schon als Kind, seinen Fuß in der Tür gehabt«. Ein paar Tage hätten sie miteinander auskommen können, dann hätte er ihr die ersten Vorwürfe, sie täte nichts für ihn, gemacht. In der Nacht habe sie überhaupt nicht geschlafen, nur auf sich »aufgepaßt«. Er sei immer nur auf dem Boden gesessen, »gehockt«, sagte sie, oft auch lang neben ihrem Bett auf dem Boden ausgestreckt gewesen, so, daß er sich mit Kopf und Füßen hat zwischen den Wänden stemmen können. Meistens habe er stundenlang auf die Wand oder auf sie, seine Schwester,geschaut und kaum etwas gegessen. Er sei auch, außer wenn er sie von der Gerberei abholte, nicht fort. Sie habe ihm »alle Augenblicke was zum Trinken« gekauft, nicht viel, aber »viel zu viel«. Sein Geruch, der Geruch, vor dem sie sich zeitlebens gefürchtet hat, sei jetzt in ihrem Zimmer, und sie werde diesen

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