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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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immer wieder Gestalten, die durchaus als lustig, ja gar als übermütig erkennbar sind, liefen, geschah meinem Freund so etwas nie; es seien ihm immer furchteinflößende Geschehnisse sichtbar gewesen, wenn er in die Vergangenheit schaute, und was da gespielt worden sei und noch gespielt werde, sei noch furchteinflößender; er wolle deshalb, sagte er immer wieder, so wenig oft wie möglich in die Vergangenheit, die wie die Gegenwart und die Zukunft sei, die Gegenwart und Zukunft sei , schauen, überhaupt nicht schauen; aber das ging nicht; eine riesige eiskalte Bühne war seine Kindheit, war seine Jugend, war sein ganzes Leben gewesen, nur dazu da, um ihn zu erschrecken, und die Hauptrollen auf dieser Bühne spielten immer nur seine Eltern und seine Schwestern; sie erfanden immer wieder etwas Neues, das ihn verstören mußte. Manchmal weinte er, und wenn ich ihn fragte, warum, dann antwortete er: weil er den Vorhang der Bühne nicht zuziehen könne; er sei zu kraftlos dazu; immer weniger oft könne er den Vorhang der Bühne zuziehen, er fürchte sich davor, ihn eines Tages überhaupt nicht mehr zuziehen zu können; wo er hingehe, wo er sich befinde, in welchem Zustand immer, er müsse sein Schauspiel anschauen; die fürchterlichsten Szenen spielten immer wieder in seinem Innsbrucker Elternhaus, in dem Kaufmannshaus; Vater und Mutter als Triebkräfte seiner tödlichen Szenerie, er sehe und höre sie immer. Oft sagte er aus dem Schlaf heraus die Wörter »Vater« und »Mutter« und die Wörter »Ochsenziemer« und »Keller« oder ein von seinen Verfolgern schließlich zu Tode gejagtes »Nichtnicht!«, das mit seinen vielen Züchtigungen zusammenhing. In der Frühe war sein Körper, sein bis in die der Natur verbotenen Keuschheit hinein verfeinerter, wenn auch verkrüppelterKörper (er hatte die Haut von todkranken Mädchen), naß, ein Fieber, das sich nicht messen ließ, schwächte ihn schon, bevor er noch aufgestanden war. Wir frühstückten meistens nicht, weil uns vor Essen und Trinken ekelte. Vor den Vorlesungen ekelte uns. Vor den Büchern ekelte uns. Die Welt war uns eine aus perverser tierischer und perverser philosophischer Pest und aus widerwärtiger Operette. Den letzten Februar war Georg gleichmäßig traurig und in seiner Traurigkeit immer allein gewesen. Er, der um ein Jahr Jüngere, mußte am Abend unter den uns beiden bekannten Voraussetzungen, unterstützt von Handbewegungen, Bewegungen seines Kopfes, unter allen von ihm gefürchteten Namen von verstorbenen oder von noch lebenden Geschöpfen und Gegenständen erschrocken sein. Die an ihn adressierten Briefe, wenige, enthielten wie die an mich nur Aufforderungen zur Besserung, nichts an Gutmütigkeit. Einmal hatte er das Wort »taktlos« ausgesprochen, er hatte gemeint, die Welt sei wenigstens taktlos. Wie anders hätten wir beide sein müssen, diesem Friedhof, der die Hauptstadt gewesen ist, der die Hauptstadt ist , den Rücken zu kehren. Wir waren zu schwach dazu. In der Hauptstadt ist jeder zu schwach dazu, sie zu verlassen. Als Letztes hatte er »Ein aussterbender Friedhof ist diese Stadt!« gesagt; nach dieser Äußerung, die mich nicht nachdenklich gemacht hat, zuerst, wie alle die andern von ihm in letzter Zeit, die sämtlich den gleichen Stellenwert hatten, war ich, es war der Vierzehnte, abends, halb elf, zu Bett gegangen. Als ich wach wurde, kurz vor zwei durch ein Geräusch, denn Georg hatte sich völlig ruhig verhalten, wohl aus dem einen Grund schon, mich unter keinen Umständen aufzuwecken (und jetzt weiß ich, wie qualvoll das für ihn gewesen sein muß), habe ich die entsetzliche Entdeckung gemacht, die Georgs Eltern jetzt als Verbrechen ihres Sohnes gegen sich selbst und als Verbrechen an seiner Familie bezeichnen. Schon um zehn des nächsten Vormittags war Georgs Vater aus Innsbruck in Wien angekommen und hatte von mir Aufklärungüber den Vorfall verlangt. Als ich aus der Klinik, in welche Georg gebracht worden war, zurückgekommen war, befand sich Georgs Vater schon in unserem Zimmer, und ich wußte, auch wenn es wegen des schlechten Wetters noch finster gewesen war, es wurde an diesem Tag auch nicht mehr anders, daß der Mann, der da Georgs Sachen zusammenpackte, sein Vater war. Obwohl auch aus Innsbruck, hatte ich ihn noch niemals vorher gesehen. Wie sich aber meine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten und auch die Finsternis auszunützen verstanden, und diese Schärfe meiner Augen werde ich niemals vergessen, sah ich, daß

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