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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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meiner Pfeife konnte ich sehen, wie die Menge der Gläubigen in das jetzt hell erleuchtete Kirchenschiff strömte. Und diese Familien wußten nicht, daß sechzehn ihrer Kinder in der Orgel eingeschlossen waren! Ich hörte deutlich das Geräusch der Schritte auf den Bodenfliesen, das Zusammenstoßen der Stühle, das Klappern der Schuhe und auch der Holzpantinen in jener Klangfülle, die den Kirchen eigen ist. Die Gläubigen nahmen ihre Plätze ein, um der Mitternachtsmesse beizuwohnen, und die Glocke läutete immer noch.
    »Bist du da?« fragte ich Betty nochmals.
    »Ja, Joseph«, antwortete mir eine schwache, zitternde Stimme.
    »Hab keine Angst … Hab keine Angst, Betty! Wir sind nur während der Messe hier … Nachher wird man uns wieder freilassen.«
    Im Grunde genommen glaubte ich nicht, daß dies geschehen würde. Nie würde Meister Effarane diese Käfigvögel fliegen lassen, und dank seiner diabolischen Macht würde er uns lange gefangenhalten können … vielleicht für immer!
    Schließlich ertönt die Chorklingel. Der Priester und seine beiden Ministranten stehen vor den Altarstufen. Die Messe wird gleich beginnen.
    Aber wie war es möglich, daß unsere Eltern sich keine Sorgen um uns gemacht hatten? Ich sah meinen Vater und meine Mutter ruhig an ihren Plätzen sitzen. – Ebenso ruhig waren Herr und Frau Clère. – Ruhig die Familien unserer Kameraden. Es war unerklärlich.
    Ich dachte noch darüber nach, als ein Wirbelwind durch das Orgelgehäuse brauste. Alle Pfeifen erbebten wie ein Wald im Sturm. Der Balg arbeitete mit ganzer Kraft. Meister Effarane hatte die Einleitung zum Introitus zu spielen begonnen. Das Grandjeu und sogar die Pedalstimmen erklangen wie Donnergrollen. Es endete mit einem großartigen Schlußakkord, der auf der Baßstimme des zweiunddreißigfüßigen Schnarrwerkes ausgehalten wurde. Dann stimmte der Priester den Introitus an:
Dominus dixit ad me: Filius meus es tu.
Und beim
Gloria
eine erneute Attacke von Meister Effarane mit dem schmetternden Trompetenregister.
    Ich lauerte voller Bangigkeit auf den Moment, da die Windstöße des Blasewerkes durch unsere Pfeifen fegen würden; aber der Organist sparte uns zweifellos für den Mittelteil der Messe auf …
    Nach der Kollekte kommt die Epistel. Nach der Epistel das Graduale, das mit zwei glanzvollen Halleluja unter Begleitung des Grandjeu der Orgel abschließt. Und dann schwieg die Orgel für eine Weile während des Evangeliums und der Predigt, in welcher der Pfarrer dem Organisten dafür dankte, daß er der Kirche von Kalfermatt ihre verstummten Stimmen zurückgegeben hatte … Ach, hätte ich doch schreien, mein Dis durch den Spalt der Pfeife senden können!
    Wir sind beim Offertorium angekommen. Nach den Worten
Laetentur coeli, et exultet terra ante faciem Domini quoniam venit
ein bewundernswertes Präludium von Meister Effarane mit dem Hauptflötenregister, im Verein mit dem Doppelregister. Es war großartig, ich muß es zugeben. Bei diesen Harmonien von unaussprechlichem Zauber herrscht Freude im Himmel, und es ist, als würden die himmlischen Chöre die Herrlichkeit des göttlichen Kindes besingen.
    Dies dauert fünf Minuten, die mir wie fünf Jahrhunderte vorkommen, denn ich ahne, daß bei der Wandlung, für welche große Künstler die erhabensten Improvisationen ihrer Schöpferkraft aufsparen, die Kinderstimmen an die Reihe kommen werden … Wirklich, ich bin mehr tot als lebendig. Mir scheint, daß meine von der Erwartungsangst ausgetrocknete Kehle niemals einen Ton hervorbringen wird. Aber ich habe nicht mit dem unwiderstehlichen Wind gerechnet, der mich aufblähen wird, sobald die mich regierende Taste sich unter dem Finger des Organisten senkt.
    Schließlich ist sie da, die gefürchtete Wandlung. Die Klingel läßt ihr etwas sprödes Läuten vernehmen. Im Kirchenschiff herrscht die Stille der allgemeinen Andacht. Die Köpfe beugen sich, während die beiden Ministranten das Meßgewand des Priesters hochheben …
    Nun, obwohl ich ein frommes Kind bin,
ich
bin nicht andächtig! Ich denke an nichts anderes als an das Gewitter, das sich unter meinen Füßen entfesseln wird! Und da sage ich mit halblauter Stimme, damit nur sie mich hört: »Betty?«
    »Was ist, Joseph?«
    »Sei auf der Hut, wir sind gleich an der Reihe!«
    »Ach, Jesus Maria!« ruft die arme Kleine.
    Ich habe mich nicht getäuscht. Ein gedämpftes Geräusch ist zu hören, das Geräusch des Regierwerkes, das dem Wind den Zugang zu dem Windkasten verschafft, in

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