Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
welchen die Pfeifen des Kinderstimmenregisters münden. Eine süße, durchdringende Melodie schwebt unter dem Kirchengewölbe im Moment, da die Wandlung vollzogen wird. Ich höre das C von Hockt, das A von Farina; dann ertönt das Es meines geliebten neben mir stehenden Mädchens, dann schwillt meine Brust von einem Wind an, einem sanft erzeugten Wind, der das Dis durch meine Lippen bläst. Wollte man auch schweigen, man könnte nicht. Ich bin nur noch ein Instrument in der Hand des Organisten. Die Taste, die er auf seiner Klaviatur beherrscht, ist wie ein Ventil meines Herzens, das sich halb öffnet … Ach, es ist herzzerreißend! Nein! Wenn er so weitermacht, werden die Laute, die uns entströmen, keine Töne mehr sein, sondern Schreie, Schmerzensschreie …! Und wie soll ich meine Qual beschreiben, als Meister Effarane mit fürchterlicher Wucht einen kleinen Septakkord anschlägt, in dem ich den zweiten Platz einnehme: C, Dis, Fis, A …! Und da der grausame, der unerbittliche Künstler den Akkord endlos lange aushält, falle ich in Ohnmacht, ich spüre, wie ich sterbe, und verliere das Bewußtsein …
    Aus diesem Grund läßt sich gemäß der Harmonielehre die berühmte kleine Septime, da ihr nun das Dis fehlt, nie mehr auflösen …
X
    »Na, na, was hast du denn?« sagte mein Vater zu mir.
    »Ich … ich …«
    »Wach auf, es ist Zeit, zur Kirche zu gehen …«
    »Zeit …?«
    »Ja … Heraus aus dem Bett, sonst versäumst du die Messe, und du weißt, ohne Messe kein Weihnachtsessen!«
    Wo war ich? Was war geschehen? War das alles nur ein Traum gewesen … das Eingesperrtsein in den Orgelpfeifen, die Musik während der Wandlung, mein in die Brüche gehendes Herz, meine Kehle, die ihr Dis nicht mehr hervorbringen konnte …?
    Ja, meine lieben Kinder, von dem Augenblick an, da ich eingeschlafen war, bis zu dem Augenblick, da mein Vater mich aufweckte, hatte ich all das infolge meiner grenzenlos überreizten Phantasie geträumt.
    »Meister Effarane?« fragte ich.
    »Meister Effarane ist in der Kirche«, antwortete mein Vater.
    »Deine Mutter ist auch schon dort … Na also, willst du dich nicht anziehen?«
    Wie im Rausch zog ich mich an und hörte immer noch die quälende und endlos lange kleine Septime …
    Ich betrat die Kirche. Ich sah alle an ihren gewohnten Plätzen: meine Mutter, Herrn und Frau Clère, meine geliebte kleine Betty, fest eingemummelt, denn es war sehr kalt. Die Glocke brummte noch hinter den Jalousien der Schallöcher im Kirchturm, und ich konnte ihr Ausschwingen hören.
    Der Priester trat in dem für große Kirchenfeiern üblichen Ornat vor den Altar und wartete auf den Triumphmarsch, den die Orgel spielen würde.
    Aber wie groß war die Überraschung, als die Orgel, statt die majestätischen Akkorde erklingen zu lassen, die dem Introitus vorangehen sollten, still blieb! Nichts! Kein einziger Ton!
    Der Küster stieg zur Empore hinauf … Meister Effarane war nicht dort. Man suchte ihn. Vergeblich. Verschwunden war er, der Organist, und verschwunden war auch der Balgtreter. Meister Effarane hatte, zweifellos voller Wut darüber, daß es ihm nicht gelungen war, sein Kinderstimmenregister einzubauen, die Kirche, dann das Dorf verlassen, ohne sich sein Guthaben ausbezahlen zu lassen, und tatsächlich sah man ihn in Kalfermatt nie wieder.
    Ich war ihm deswegen nicht böse, das gebe ich zu, meine lieben Kinder, denn in der Nähe dieses seltsamen Menschen wäre ich niemals mit einem Traum davongekommen, sondern so verrückt geworden, daß man mich ins Irrenhaus hätte stecken müssen!
    Und wenn er verrückt geworden wäre, so hätte Herr Dis zehn Jahre später nicht Fräulein Es heiraten und mit ihr eine vom Himmel gesegnete Ehe – wenn es das denn gibt – eingehen können. Was beweist, daß man trotz des Unterschiedes von einem Achtelton, eines »Kommas«, wie Meister Effarane es nannte, in der Ehe doch glücklich sein kann.

Weitere Kostenlose Bücher