Erzählungen
bat er und hob den Arm wie einen Dirigentenstock.
Acht Knaben, darunter ich, und acht Mädchen, darunter Betty, stellten sich in zwei Reihen einander gegenüber auf. Und jetzt begann er uns viel gründlicher zu prüfen, als wir es zu Zeiten von Eglisack je erlebt hatten. Wir mußten den Mund öffnen, die Zunge herausstrecken, lange ein-und ausatmen, ihm die Stimmbänder bis auf den Grund der Kehle zeigen, und es schien, als wollte er sie mit den Fingern zupfen. Ich glaubte, er werde uns stimmen, als wären wir Geigen oder Violoncelli. Ehrlich gesagt, wir waren, die einen wie die anderen, eingeschüchtert.
Der Pfarrer, Herr Walrügis und seine betagte Schwester saßen verdutzt da und wagten kein Wort zu sagen.
»Achtung!« rief Meister Effarane, »die C-Dur-Tonleiter solfeggieren! Ich gebe euch den Ton an.«
Den Ton? Ich erwartete, daß er einen kleinen Gegenstand mit zwei Zinken, ähnlich jenem des guten Eglisack, aus der Tasche ziehen würde, dessen Schwingungen in Kalfermatt wie andernorts das offizielle A erzeugen würden.
Aber da erlebte ich eine weitere Überraschung.
Meister Effarane hatte den Kopf gesenkt, und mit seinem gekrümmten Daumen versetzte er sich am Schädelansatz einen scharfen Schlag. O Wunder! Sein oberster Wirbel gab einen metallischen Ton von sich, und es war genau das A mit seinen offiziell festgelegten achthundertsiebzig Schwingungen.
Meister Effarane hatte in seinem Innern von Natur eine Stimmgabel! Und nun gab er uns eine kleine Terz höher das C an, während, sein Zeigefinger am Ende des Armes leicht zitterte, und sagte wieder: »Achtung! Zuerst ein Auftakt!«
Und so solfeggierten wir die C-Tonleiter, zuerst aufwärts, dann abwärts.
»Schlecht … schlecht …«, rief Meister Effarane aus, als der letzte Ton verklungen war, »ich höre sechzehn verschiedene Stimmen, und ich sollte nur eine einzige hören.«
Ich bin der Meinung, daß er sich viel zu heikel verhielt, denn wir waren es gewohnt, mit großer Präzision zusammen zu singen, was uns immer sehr viele Komplimente eingebracht hatte.
Meister Effarane schüttelte den Kopf, warf unzufriedene Blicke nach rechts und nach links. Es kam mir vor, als würden sich seine Ohren, die eine gewisse Beweglichkeit aufwiesen wie bei den Hunden, Katzen und anderen Vierfüßern, aufrichten.
»Beginnen wir nochmals!« rief er laut. »Diesmal eines nach dem anderen. Jedes von euch sollte einen persönlichen Ton, sozusagen einen physiologischen Ton haben, den einzigen, den es in einem Chor je singen sollte.«
Einen einzigen Ton – einen physiologischen! Was mochte dieses Wort bedeuten? Nun, ich hätte gerne gewußt, welches
sein
Ton, der Ton dieses Originals und auch der Ton des Pfarrers war, der immerhin eine hübsche Sammlung von Tönen besaß, von denen einer falscher war als der andere!
Wir begannen nicht ohne anfängliche Bangigkeit – würde uns dieser schreckliche Mann etwa noch grob behandeln? – und nicht ohne eine gewisse Neugierde, welches wohl unser persönlicher Ton sei, den wir in unserer Kehle pflegen sollten wie eine Pflanze in ihrem Topf.
Hockt war der erste, und nachdem er die einzelnen Noten der Tonleiter gesungen hatte, wurde ihm von Meister Effarane das G als
physiologisch
zugestanden, als der präziseste, der wärmste Ton, den sein Kehlkopf hervorzubringen vermochte. Nach Hockt kam Farina an die Reihe, der auf immer und ewig zum A verurteilt wurde.
Dann mußten sich auch meine übrigen Kameraden dieser peinlich genauen Prüfung unterziehen, und ihr günstigster Ton erhielt den offiziellen Kontrollstempel von Meister Effarane.
Jetzt trat ich vor.
»Ah, du bist es, Kleiner!« sagte der Organist.
Und indem er meinen Kopf in die Hände nahm, drehte er ihn hin und her, so daß ich befürchtete, er werde ihn schließlich noch abschrauben.
»Laß hören, welches dein Ton ist«, meinte er dann.
Ich sang die Tonleiter vom C bis zum hohen C hinauf und hinunter. Meister Effarane schien nicht befriedigt zu sein. Er befahl mir, nochmals zu beginnen … Es ging nicht … Es ging nicht. Ich fühlte mich sehr gedemütigt. Mir, einem der Besten in der Singschule, sollte der individuelle Ton fehlen?
»Los!« rief Meister Effarane. »Die chromatische Tonleiter … Vielleicht werde ich dort deinen Ton entdecken.«
Und meine Stimme kletterte in Halbtönen die Oktave hinauf. »Gut … gut!« sagte der Organist. »Ich habe deinen Ton, und du wirst ihn nun während eines ganzen Taktes aushalten!«
»Und welcher ist es –?«
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