Erzählungen
habe. Es ist ein genaues Faksimile von dem, was in einem Teil der Zeugenaussagen als dunkle Quetschungen beschrieben wurde, als tiefe Eindrücke von Fingernägeln am Halse des Fräuleins L’Espanaye, und was von Herrn Dumas und Herrn Etienne eine Reihe von blutunterlaufenen Flecken, die augenscheinlich Eindrücke von Fingern seien, genannt wurde.«
»Sie sehen«, fuhr mein Freund fort, indem er das Papier auf dem Tisch ausbreitete, »daß die Zeichnung auf einen festen, eisernen Griff hinweist. Es ist nichts von einem Abgleiten zu bemerken. Jeder Finger hat wahrscheinlich bis zum Tode des Opfers den furchtbaren Griff beibehalten, mit dem er sich von Anfang an einkrallte. Versuchen Sie nun Ihre Finger zu gleicher Zeit in die analogen Abdrücke auf dem Papier zu legen.«
Ich versuchte es, jedoch vergebens.
»Vielleicht fangen wir die Sache noch nicht richtig an«, sagte er.
»Das Papier liegt augenblicklich auf einer ebenen Fläche, und der menschliche Hals hat die Form eines Zylinders. Hier ist ein rundes Scheit Holz, das ungefähr den Umfang eines Halses hat. Umwickeln Sie es mit dem Papier und versuchen Sie von neuem.«
Ich tat es; aber meine Hand erwies sich wieder als bedeutend zu klein. »Das ist nicht der Abdruck einer Menschenhand«, sagte ich endlich. »Lesen Sie jetzt«, fuhr Dupin fort, »diese Stelle von Cuvier.«
Er reichte mir einen ausführlichen anatomischen und beschreibenden Bericht über den schwarzbraunen Orang-Utan der ostindischen Inseln. Die riesige Gestalt, die wunderbare Kraft und Behendigkeit, die fürchterliche Wildheit und der starke Nachahmungstrieb dieser Tiere wurden in demselben besonders hervorgehoben. Sofort verstand ich die ganze Gräßlichkeit des Mordes.
»Die Beschreibung der Zehen«, sagte ich, als ich ausgelesen hatte, »stimmt mit dieser Zeichnung überein. Ich sehe, daß kein anderes Tier als der Orang-Utan der hier erwähnten Gattung solche Fingerabdrücke, wie die hier gezeichneten, hinterlassen konnte. Dies Büschel gelbbrauner Haare entspricht ebenfalls nach Cuvier dem Haar der Bestie. Doch kann ich die Einzelheiten dieses geheimnisvollen, grausigen Ereignisses noch nicht verstehen. Außerdem hörte man doch zwei streitende Stimmen, und die eine gehörte zweifellos einem Franzosen.«
»Das ist richtig. Sie erinnern sich auch jedenfalls eines Ausdruckes, den die Zeugen nach ihren übereinstimmenden Aussagen von dieser Stimme gehört haben – ich meine den Ausruf. – ›Mon Dieu.‹ Dieser ist von einem der Zeugen (dem Konditor Montani) sehr richtig als ein Ausdruck des Vorwurfes, des Verweises, beschrieben worden.
Auf diese beiden Worte habe ich denn auch meine Hoffnung, das Rätsel vollständig zu lösen, aufgebaut. Ein Franzose wußte um den Mord. Es ist möglich, ja, mehr als wahrscheinlich, daß er an all den Einzelheiten des blutigen Dramas keine Schuld hat. Der Orang-Utan ist ihm vielleicht entflohen. Er hat ihn bis zu jenem Zimmer verfolgt, konnte ihn aber während der gräßlichen Szene, die nun folgte, nicht wieder einfangen. Mithin treibt sich das Tier noch frei umher. Ich will aus diesen Vermutungen – anders kann ich sie mit Recht nicht nennen – nichts weiter folgern, denn sie sind so schwach begründet, daß selbst mein eigener Verstand sie kaum als glaubhaft anerkennen will und ich nicht verlangen kann, daß jemand anders ihnen Bedeutung beilegt. Nennen wir sie also immerhin Vermutungen und behandeln wir sie auch als solche. Wenn der betreffende Franzose, wie ich annehme, wirklich unschuldig an der Greueltat ist, wird ihn diese Anzeige, die ich gestern abend bei unserer Rückkehr in der Redaktion der Zeitung Le Monde , dem Organ der Seefahrer, das viel von Matrosen gelesen wird, aufgab, bald hierher in unsere Wohnung führen.« Er reichte mir eine Zeitung und ich las:
›Eingefangen , – im Bois de Boulogne, am Morgen des … (am Morgen nach dem Morde), ein sehr großer, gelbbrauner Orang-Utan, wahrscheinlich aus Borneo stammend. Der Eigentümer, wie ermittelt, ein Matrose auf einem Malteser Schiff, kann das Tier nach genügender Beschreibung und Erlegung der Kosten für Einfangen und Verpflegung in Empfang nehmen. Zu erfragen No. …, Rue …, Faubourg St. Germain, dritter Stock.‹
»Wie konnten Sie wissen«, fragte ich, »daß der Mann ein Matrose ist und auf einem Malteser Schiffe in Dienst steht?«
»Ich weiß es auch nicht«, entgegnete Dupin, »jedenfalls weiß ich es nicht gewiß. Hier ist jedoch ein kleines Stück Band, das seiner
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