Erzählungen
Schandtat gelten lassen wollen, dann müssen wir auch zugleich annehmen, daß der Täter unentschlossen und blöde genug war, um Motiv und Gold zugleich im Stich zu lassen.
Wir wollen die Punkte, auf die ich eben Ihre Aufmerksamkeit lenkte, fest im Gedächtnis behalten: die sonderbare Stimme, die außergewöhnliche Behendigkeit und die Tatsache, daß ein Motiv zu einem so entsetzlich grauenhaften Mord fehlt. Betrachten wir uns nun die Metzelei selbst. Eine Frau ist mit bloßen Händen zu Tode gewürgt und mit dem Kopf nach unten in den Kamin hinaufgezwängt worden. Gewöhnliche Mörder morden nicht in dieser Weise. Am allerwenigsten suchen sie ihr Opfer auf diese Weise zu verbergen. Sie werden zugeben, daß in der Art, in der der Leichnam in den Kamin gestopft wurde, etwas so unerhört Scheußliches liegt, daß es sich mit unseren gewöhnlichen Begriffen von menschlicher Handlungsweise absolut nicht vereinigen läßt, selbst wenn wir annehmen, daß die Täter ganz entmenschte Bösewichter waren. Bedenken Sie auch, wie groß die Kraft gewesen sein muß, die einen Körper gewaltsam in eine solch kleine Öffnung hinaufzwängen konnte, daß die vereinte Kraft mehrerer Personen gerade genügte, um ihn wieder herabzuziehen!
Wir haben noch weitere Beweise von dieser übermenschlichen Kraft. Auf dem Herde lagen dicke Flechten – sehr dicke Flechten – von grauem Menschenhaar, die mit den Wurzeln ausgerissen worden waren. Sie wissen wohl, welch große Kraft dazu gehört, um nur zwanzig bis dreißig Haare zusammen so aus dem Kopfe zu reißen.
Sie haben die Flechten so gut gesehen wie ich. Ihre Wurzeln – ein scheußlicher Anblick – klebten noch mit Stücken der Kopfhaut zusammen, ein sicheres Zeichen der übermenschlichen Kraft, die benutzt worden war, um vielleicht ein paar Tausend Haare auf einmal auszureißen. Die Kehle der alten Dame war nicht allein durchschnitten, sondern der Kopf vollständig vom Rumpf getrennt; das Instrument war ein bloßes Rasiermesser. Beachten Sie die tierische Roheit, die aus dieser Handlungsweise spricht. Von den Quetschungen am Körper der Frau L’Espanaye will ich nicht reden. Herr Dumas und sein Assistent, Herr Etienne, sagten aus, daß dieselben mit einem stumpfen Instrument hervorgebracht sein müßten, und soweit haben die Herren recht.
Das ›stumpfe Instrument‹ war nämlich offenbar das Steinpflaster des Hofes, auf den das Opfer aus dem Fenster hinuntergeschleudert wurde. Dieser Gedanke, der uns jetzt so selbstverständlich vorkommt, entging der Polizei aus demselben Grunde, aus dem sie die Breite der Fensterläden nicht bemerkt hatte; der Umstand, daß die Nägel anscheinend fest saßen und unverletzt waren, hatte ihr Begriffsvermögen wie hermetisch gegen die Annahme verschlossen, daß die Fenster überhaupt geöffnet worden seien.
Wenn wir uns zu all diesem noch an die seltsame Unordnung im Zimmer erinnern, haben wir folgende Fakta: erstaunliche Behendigkeit – übermenschliche Kraft – tierische Roheit – eine grundlose Verwüstung – eine mit dem Begriff Menschlichkeit nicht zu vereinigende Bizarrerie in der Scheußlichkeit – und eine Stimme, die den Ohren vieler Leute aus den verschiedensten Nationen fremd klang und keine deutlichen oder verständlichen Silben äußerte. Welcher Schluß ist daraus zu ziehen? Welcher Gedanke drängt sich Ihnen auf?«
Ich fühlte, wie mir, als Dupin diese Frage stellte, Schaudern durch Mark und Bein ging.
»Ein Wahnsinniger«, sagte ich, »hat die Tat begangen, ein Tobsüchtiger, der aus dem benachbarten Irrenhause entsprungen ist.«
»In mancher Beziehung«, antwortete er, »wäre Ihr Verdacht annehmbar; aber die Stimmen von Wahnsinnigen haben selbst im wildesten Paroxysmus nicht jene Eigentümlichkeiten, die man an der fraglichen schrillen Stimme wahrgenommen hat. Wahnsinnige gehören doch irgendeiner Nation an, und ihre Sprache, so unzusammenhängend die Worte auch immer sein mögen, bildet Silben. Überdies haben Wahnsinnige nicht solches Haar, wie ich es hier in der Hand habe. Ich löste dieses kleine Büschel aus den im Todeskampfe zusammengekrampften Fingern der Frau L’Espanaye. Sagen Sie mir, was Sie von demselben halten?«
»Dupin«, rief ich entsetzt, »dies Haar ist ein ganz ungewöhnliches – es ist kein Menschenhaar.«
»Das habe ich auch nicht behauptet«, gab er zur Antwort, »aber ehe wir diesen Punkt entscheiden, möchte ich Sie bitten, einen Blick auf die Skizze zu werfen, die ich auf dies Papier gezeichnet
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