Karambolage
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Ostern ist das große Fest der Christenheit. Aber wenn die Christen feiern, dann gehen sie höchstens in die Kirche und nicht ins Kaffeehaus. Viele Menschen, ob Christen oder Nichtchristen, nehmen sich überhaupt zu den Festtagen eine Auszeit von der Stadt, scheren aus in den ländlichen Ruheraum oder den schon etwas wärmeren Süden und lassen die rauchgeschwängerte Luft und die Kaisermelange weit hinter sich.
Das sind schlechte Zeiten für das Café Heller in Wien-Floridsdorf. Nur wenige Stammgäste kommen auf einen Anstandsbesuch, trinken ihren kleinen Braunen und empfehlen sich wieder. Hie und da trifft sich abends eine gemütliche Runde, aber die Leute gehen früher als sonst. Noch ein Getränk? Nein, danke! Es ist Ostern, und da hat man auch anderwärtig etwas vor. Im Kaffeehaus ist die wahre Fastenzeit ausgebrochen.
Noch ehe der Herr Jesus Christus auferstanden ist, schließt das Café Heller deshalb in Demut seine Pforten – und feiert am dritten Tage danach, an einem schönen Dienstag, seine ganz private, eigene Auferstehung, wenn sich die wohlbekannten Gesichter wieder blicken lassen und feststeht, dass die kleine Pause nichts an den alten Gepflogenheiten geändert hat: Hier kommt das Achterl Rotwein hin, da der Gugelhupf und dort die heiße Schokolade.
So war’s auch diesen Dienstag. Die Sonne schien zum Fenster herein, und dem Oberkellner Leopold lachte das Herz im Leibe, als er die unzähligen kleinen Staubkörnchen in ihrem Lichtschein tanzen sah, die sich während der paar Ruhetage angesammelt hatten. Jetzt war wieder alles in Bewegung!
Bald würde noch weit mehr in Bewegung sein. Das große Dreiband-Billardturnier der Wiener Kaffeesieder stand ins Haus. [1]
Eine der Vorrunden der Veranstaltung, bei der alle teilnahmeberechtigt waren, die Lust und Laune dazu hatten und ein kleines Nenngeld zahlten – außer den wirklichen Turnierspielern –, fand im Café Heller statt. Stärker eingeschätzte Spieler, also etwa der überwiegende Teil derjenigen, die in einem Klub eingeschrieben waren, mussten schwächeren Gegnern Punkte vorgeben. Für den Sieg benötigte man insgesamt 15 Punkte, und der Verlierer schied aus. Die Gewinner aller Vorrunden stiegen ins große Finale in der Wiener Stadthalle auf. Zusätzlich gab es Pokale und Sachpreise zu gewinnen.
Diese Vorrunde sollte schon heute beginnen und bis Donnerstag dauern. Also musste gleich das ganze Kaffeehaus auf Hochglanz gebracht werden. Die Billardbretter waren während der Feiertage frisch überzogen worden, die Queues aussortiert und repariert, ein Spielplan erstellt. Jetzt arbeitete man an den letzten Kleinigkeiten: Spielbälle polieren, Queuekreiden auspacken und Platz für möglichst viele Zuschauer schaffen, ohne die Spieler einerseits beziehungsweise den üblichen Kaffeehausbetrieb andererseits allzu sehr zu stören. Denn Herr Heller rechnete an allen Tagen des Turniers mit Hochbetrieb.
Mit stiller Andacht und nur begleitet vom Geräusch der Kaffeemaschine saugte Leopold noch einmal die Bretter ab, die für drei Tage die Welt bedeuten sollten. Dabei wurde ihm wieder klar, wie viel das Billardspiel über den Charakter der Menschen aussagte, die es regelmäßig betrieben.
Da gab es einmal jene Spieler, die unbeschwert und frisch von der Leber weg agierten und sich so von Stoß zu Stoß, von Stellung zu Stellung und von Punkt zu Punkt weiterarbeiteten, ohne erst große Überlegungen anzustellen. Im Prinzip überließen sie die Dinge dem Zufall, so wie ein anderer ohne viele Gedanken in den Tag hineinlebt. Das waren meist liebenswerte, aber unzuverlässige Typen, unterhaltsam, aber ohne rechte Ordnung in ihrem Leben. Dann gab es im Gegenteil solche, die jede Stellung minutiös berechneten, im Vorhinein schon wussten, wie sich die Bälle nach dem nächsten Stoß wieder zusammenfinden würden: solide, auf Genauigkeit und Kontinuität bedachte Menschen, erfolgreich, aber langweilig – und leicht aus den Angeln zu heben. Wehe, wenn sie eine Entwicklung des Spiels nicht richtig vorausahnten und plötzlich zum Spielball des Zufalls wurden. Dann waren sie dem Schicksal hilflos ausgeliefert. Andere wiederum streichelten und liebkosten die Bälle so, als handle es sich um delikate Frauenzimmer. Jeder Ballberührung wohnte ein Hauch von Zartheit inne. Es waren die wirklichen Liebhaber des Spiels, aber im Allgemeinen mangelte es ihnen an der nötigen Durchschlagskraft: Irgendwann fiel ein Stoß zu schwach aus, und der eigene Ball blieb hilflos
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