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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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Bergwände war mit zartgrünem, dichtem, gleichmäßigem Rasen bedeckt, der vanillesüß duftete und mit gelben Ranunkeln, weißen Gänseblümchen, purpurnen Veilchen und rubinroten Asphodelen übersät war, so daß seine wunderbare Schönheit in unseren Herzen ein Loblied auf die Liebe und Herrlichkeit Gottes anstimmte. Und hie und da, Traumseltsamkeiten gleich, erhoben sich auf dem Rasen phantastische Bäume, deren schlanke Stämme nicht aufrecht standen, sondern sich dem Licht zuwandten, das zur Mittagszeit in die Mitte des Tales fiel. Ihre ebenholzfarbene Rinde war silbergesprenkelt und weicher als alles – es sei denn man hätte Eleonorens Wangen gefühlt. Ohne die glänzenden, grünen, riesigen Blätter, die in zitternden Linien von ihrem Gipfel herabhingen und mit dem Zephyr spielten, hätte man sie für ungeheure syrische Schlangen gehalten, die der Sonne, ihrer Herrscherin, Huldigungen darbrachten.
    Eleonora und ich streiften fünfzehn Jahre lang Hand in Hand in dem Tal umher, ehe die Liebe in unsere Herzen einzog. Eines Abends, gegen Ende des dritten Lustrums ihres Lebens und im vierten des meinigen, saßen wir innig umschlungen unter den Schlangenbäumen und betrachteten unser Bildnis, das der ›Fluß des Schweigens‹ widerspiegelte. Wir sprachen an diesem köstlichen Abend kein Wort, und auch am folgenden Morgen war unsere Rede noch zitternd und zögernd. Gott Eros war aus den Wellen zu uns heraufgestiegen, und wir fühlten, daß er die feurige Seele unserer Vorväter in uns entzündet hatte. Die Leidenschaftlichkeit und die blühende Kraft der Phantasie, die Jahrhunderte lang unser Geschlecht ausgezeichnet, kam über uns und hauchte ein Übermaß von Seligkeit durch das Tal des Vielfarbigen Grases. Alle Dinge veränderten sich. Seltsame, leuchtende, sterngestaltete Blumen brachen an Bäumen auf, an denen wir bis dahin nie Blüten bemerkt hatten. Die Tinten des grünen Teppichs vertieften sich, die weißen Gänseblümchen verschwanden, eins nach dem anderen, und an der Stelle eines jeden schossen je zehn rubinrote Asphodelen auf. Und Leben erhob sich auf unseren stillen Pfaden, denn der große Flamingo, den wir bis dahin noch nie gesehen, und zahllose muntere, leuchtend beschwingte Vögel entfalteten ihr strahlendes Gefieder. Gold- und Silberfische durchschossen den Fluß, aus dessen Schoß nach und nach ein Flüstern heraufklang, das zu einer sanften, wiegenden Melodie anschwoll, die himmlischer tönte als der Gesang der Äolsharfe, süßer als alles – es sei denn, man hätte Eleonorens Stimme gehört. Es kam auch eine ungeheure Wolke heran, die wir schon lange in Hesperus‘ Gebiet beobachtet hatten. Es rieselte in ihr von goldenem und purpurnem Lichte – gerade über uns blieb sie stehen und senkte sich Tag für Tag tiefer, bis sie auf den Spitzen der Berge ruhte, ihre Düsterkeit in Glanz verwandelte und uns unten im Tal des Vielfarbigen Grases wie in einem Schloß voll zauberhafter Herrlichkeit gefangen hielt.
    Eleonorens Schönheit war die der Seraphim; doch war sie einfach und natürlich und unschuldig, wie das kurze Leben, das sie unter den Blumen unseres Tales geführt hatte. Keine Künstlichkeit verbarg die Glut der Liebe, die ihr Herz empfand – dieses Herz, dessen geheimste Verborgenheiten sie mir enthüllte, wenn wir zusammen umherstreifen und über die machtvollen Veränderungen sprachen, die sich in so kurzer Zeit in unserem Tal vollzogen hatten.
    Eines Tages, als wir von jener letzten traurigen Veränderung sprachen, die alle Menschen erdulden müssen, ließ sie von diesem schmerzvollen Thema nicht mehr ab und wußte es in jede Wendung unseres Gesprächs zu bringen … Sie fühlte wohl, daß der Finger des Todes ihre Brust berührt hatte – gleich dem Leben der Eintagsfliege hatte sich ihre Schönheit nur entfaltet, um zu sterben; doch alle Schrecken des Todes waren für sie in dem einen Gedanken enthalten, von dem sie eines Abends im Zwielicht an den Ufern des Flusses zu mir gesprochen hatte. Es bereitete ihr Kummer, zu denken, daß ich, wenn ich sie im Tal des Vielfarbigen Grases begraben hätte, diese selige Stätte auf immer verlassen und die leidenschaftliche Liebe, die jetzt ihr galt, einer Tochter der äußeren, alltäglichen Welt schenken werde. Doch ich warf mich ihr zu Füßen und schwor ihr und dem Himmel einen Eid, daß ich niemals ein Kind der Welt zur Ehe nehmen wolle, daß ich niemals ihrem Angedenken und der Erinnerung an die heiße Liebe, mit der sie mich

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