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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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hatte keine Nahrung mehr. Das Gefühl des Seins war nun vollständig verschwunden, und an seiner Stelle, und an der Stelle aller Dinge herrschten die ewigen Autokraten Raum und Zeit .
    Für das, was nicht war – für das, was keine Gestalt hatte – für das, was keinen Gedanken hatte – für das, was kein Gefühl hatte – für das, was ohne Seele war und kein Atom von Materie mehr besaß, für all dieses Nichts und dennoch Unsterbliche war das Grab noch Heimstätte und die fressenden Stunden Gesellschafter.

ELEONORA
    Eleonora ()
    Sub conservatione formae specificae salva anima. (Raymond Lully)

    Ich stamme aus einem Geschlecht, das durch kraftvolle Phantasie und heiße Leidenschaftlichkeit ausgezeichnet ist. Die Menschen haben mich einen Wahnsinnigen genannt; aber es ist noch die Frage, ob der Wahnsinn nicht die höchste Stufe der Geistigkeit bedeutet, ob nicht vieles Glorreiche und alles Tiefe seinen Ursprung in einer Krankhaftigkeit des Gedankens, in dem besonderen Wesen eines Zustandes hat, der auf Kosten des allgemeinen Verstandes aufs äußerste, und zwar einseitig, erregt ist. Die Menschen, die am hellen Tage träumen, lernen Dinge kennen, die denen entgehen müssen, die nur nachts träumen. Durch den grauen Nebel ihrer Visionen dringen die ersten Lichtschimmer der Ewigkeit zu ihnen, und halb erwachend fühlen sie mit Schaudern, daß sie einen Augenblick lang an das große Geheimnis gerührt haben. Ruckweise erfassen sie einiges von der Weisheit, die gut, und vieles von der Erkenntnis, die böse ist. Sie dringen ohne Ruder und Kompaß auf dem ungeheuren Ozean des ›unaussprechlichen Lichtes‹ vor, und wieder, wie in den Abenteuern des nubischen Geographen, ›aggressi sunt mare tenebrarum, quid in eo esset exploraturi‹.
    Bleiben wir also dabei: ich bin wahnsinnig. Dennoch erkenne ich deutlich zwei unterscheidbare Zustände meines geistigen Seins: den Zustand vollständig klaren, nicht anzuzweifelnden Verstandes, der sich auf die Erinnerung aller Ereignisse erstreckt, welche die erste Epoche meines Lebens bildeten – und den umdunkelten Zustand voller Zweifel, in den meine Seele jetzt versunken ist und der alle Erinnerungen an Begebenheiten aus der zweiten großen Epoche meines Lebens betrifft. Glauben Sie also alles, was ich Ihnen von der ersten Periode erzähle, und von der zweiten nur das, was Ihnen glaubwürdig erscheint. Oder zweifeln Sie ruhig alles an; sollten Sie dies aber nicht können, so spielen Sie wenigstens den Ödipus vor dem Rätsel der Sphinx meiner Seele.
    Sie, die ich in meiner Jugend liebte und der zum Andenken ich dies hier niederschreibe, war die einzige Tochter der einzigen Schwester meiner langverstorbenen Mutter und hieß Eleonora. Im Tal des Vielf arbigen Grases , unter tropischer Sonne, hatten wir immer zusammengewohnt. Niemals betrat ein Fremder das Tal, denn es lag verborgen zwischen einer Kette gigantischer Berge, die von allen Seiten seinen Frieden umhegten und seine köstlichen Schlupfwinkel vor dem Brand der Sonne beschützten. Kein begangener oder gangbarer Pfad führte hinein; um von außen in unser glückliches Heim zu gelangen, hätte man das Geäst von vielen tausend Waldbäumen durchbrechen und die Schönheit unzähliger duftiger Blumen dem Tode weihen müssen.
    So lebten wir also ganz allein und kannten nichts von der Welt außerhalb des Tales – ich, meine Cousine und ihre Mutter.
    Aus den nebelhaften Regionen der höchsten Bergspitzen, die unser Reich so gut verschlossen, wand sich ein schmaler, tiefer Fluß hervor, der glänzender schien als alles um uns her – es sei denn, man hätte in Eleonorens Augen gesehen. Er schlängelte sich in zahlreichen Krümmungen durch das Tal und entschlüpfte dann in eine finstere Bergschlucht, in Felsenspalten, die in noch dichterem Nebel lagen als die, aus denen er hervorgetreten. Wir nannten ihn den ›Fluß des Schweigens‹, denn eine große Beruhigung schien von seinen Fluten auszugehen. Kein Murmeln stieg aus seinen Wellen hervor; er glitt so sanft dahin, daß die perlgleichen Sandkörner tief unten in seinem Schoße, die wir so gern betrachteten, sich nicht bewegten, sondern in ruhevollem Glück an ihrem Platz liegen blieben und in immerwährendem Glanz erstrahlten.
    Das Ufer des Flusses und der vielen schimmernden Bäche, die auf verschlungenen Wegen seinem Bette zuströmten, der ganze Raum vom Ufer bis zum Kieselsteingrunde in der klaren Tiefe, ja die ganze Oberfläche des Tales vom Fluß bis an die

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