Die Vermessung des Körpers
VOR DEM SPIEGEL
Stellen Sie sich einmal vor einen Spiegel, in dem Sie sich von oben bis unten sehen können, und betrachten Sie sich ganz genau. Nicht wie sonst – machen Sie sich bewusst, was Sie da vor sich haben. Möglicherweise ist Ihnen das ein bisschen unangenehm. Wahrscheinlich fangen Sie an, nach Schönheitsmakeln zu suchen, bemerken die Extra-Zentimeter an der Taille. Doch darum geht es nicht. Ich möchte, dass Sie ganz bewusst das menschliche Wesen vor Ihnen betrachten.
In diesem Buch dient der menschliche Körper dazu, wissenschaftliche Extrembereiche zu erkunden, denn er bietet alles, was man braucht: Von den chemischen Prozessen bei Verdauungsstörungen bis hin zum Urknall und den verborgensten Geheimnissen des Universums findet sich alles in dieser einen kompakten Struktur wieder.
Ihr Körper wird zu Ihrem Labor und Ihrem Observatorium werden. Man kann den gesamten Körper betrachten und ihn als einzelnes erstaunliches Objekt behandeln. Als Lebewesen. Man kann sich aber auch ins Detail stürzen und erforschen, wie unser Körper mit der Welt interagiert, die ihn umgibt, oder wie er die Energie in der Nahrung nutzt, um in Bewegung zu bleiben. Blicken Sie noch etwas genauer hin, dann erkennen Sie zwischen 10 und 100 Billionen Zellen. Jede dieser Zellen ist eine hoch entwickelte Portion Leben, die man, isoliert betrachtet, freilich nicht mit Ihnen persönlich gleichsetzen kann. Zoomen Sie weiter hinein, stellen Sie fest, dass das Ganze durch komplexe chemische Vorgänge gesteuert wird – in jeder Zelle Ihres Körpers findet sich ein Exemplar des größten bekannten Moleküls: die DNS.
Wenn Sie nun noch weiter ins Detail gehen, gelangen Sie schließlich zu den Atomen, aus denen alle Materie besteht. Das herkömmliche Zahlensystem holpert hier etwas; so besteht ein durchschnittlicherErwachsener aus ungefähr 7 000 000 000 000 000 000 000 000 000 Atomen. Es ist viel leichter, »7 mal 10 hoch 27« zu sagen, was einfach eine Sieben mit 27 Nullen bedeutet. Das sind mehr als eine Milliarde Atome für jede Sekunde des vermuteten Alters unseres Universums. In der scheinbar so schlichten Gestalt, die Sie vor sich im Spiegel sehen, steckt also eine ganze Menge drin.
Über das Spiegelbild
Gleich werden wir uns dem Miniaturuniversum in Gestalt Ihres Körpers zuwenden, doch lassen Sie uns noch einen Augenblick verweilen und Ihr Spiegelbild näher betrachten. Das bietet uns die Möglichkeit, ein Rätsel zu erforschen, das die Menschen jahrhundertelang verwirrt hat. Stellen Sie sich vor den Spiegel. Heben Sie die rechte Hand. Welche Hand hebt Ihr Spiegelbild?
Wie Sie aus Erfahrung wissen, hebt Ihr Spiegelbild die linke.
Das ist das Rätsel. Der Spiegel kehrt rechts und links um – was wir so akzeptieren. Unsere linke Hand wird zur rechten Hand des Spiegelbildes. Wenn man das rechte Auge schließt, macht das Spiegelbild das linke zu. Wenn man links einen Scheitel trägt, ist das Haar des Spiegelbildes auf der rechten Seite geteilt. Trotzdem ist der Kopf im Spiegel oben zu sehen und die Füße (sofern es ein Ganzkörperspiegel ist) am unteren Ende. Warum vertauscht der Spiegel rechts und links, lässt aber oben und unten, wie sie sind? Warum behandelt er die beiden Richtungen unterschiedlich?
Hier bietet sich uns eine gute Gelegenheit, wissenschaftlich zu denken. Drei Dinge haben Einfluss darauf, wie ein Spiegelbild entsteht: der Weg des Lichts zwischen Ihnen und dem Spiegel, Ihre Wahrnehmung dieses Lichts (mit den Augen) und schließlich die Interpretation der empfangenen Signale durch das Gehirn.
Später in diesem Buch werden wir all diese Aspekte Ihres Körpers detaillierter betrachten. Ein bedeutender Punkt könnte sich jedoch schon jetzt aufdrängen, wenn Sie über den Vorgang nachdenken, wie Sie Ihr Spiegelbild wahrnehmen. Ihre Augen sind horizontal angeordnet. Sie haben ein rechtes und ein linkes Auge, kein oberesund unteres. Könnte das vielleicht der Grund dafür sein, warum nur eine Links-rechts-Umkehr stattfindet?
Leider nein. Das ist zwar eine ziemlich gute Hypothese, aber in diesem Fall ist sie falsch. Aber keine Sorge: Ein Großteil unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse beruht darauf, dass sich Ideen als falsch herausstellen. Versuchen wir ein kleines Experiment, das verdeutlichen hilft, was tatsächlich geschieht.
----
Experiment – Über das Spiegelbild
Halten Sie ein geschlossenes Buch (oder eine Zeitschrift) vor sich. Die Titelseite zeigt zu Ihnen. Betrachten Sie nun das Buch im Spiegel.
Weitere Kostenlose Bücher