Erzählungen
versunken war, wandte sie plötzlich, durch irgendeinen Vorgang im Publikum veranlaßt, ihren Kopf ein wenig herum, so daß ich das ganze Profil erblicken konnte. Seine Schönheit übertraf meine Erwartungen noch bei weitem, und dennoch lag etwas in ihm, was mich enttäuschte, ohne daß es mir möglich gewesen wäre, genau zu sagen, was es war. Auch ist ›enttäuscht‹ nicht ganz das richtige Wort für meine Gefühle, die durch diesen Anblick zugleich beruhigt und erhoben worden waren. Das berauschte Entzücken hatte einer mehr stillen Schwärmerei, einer verklärten, ruhigen Hingabe Platz gemacht. Dieser Wechsel der Empfindung rührte vielleicht von dem madonnenhaften, mütterlichen Ausdruck des Gesichts her, und doch empfand ich sofort, daß er nicht die einzige Ursache sein konnte. Es war noch etwas anderes da, etwas Geheimnisvolles, das ich mir nicht zu enträtseln vermochte, ein besonderer Ausdruck, der mir nicht ganz angenehm auffiel und dennoch mein Interesse für die Person bedeutend erhöhte. Ich befand mich in einer Gemütsverfassung, die einen jungen, lebhaften Mann leicht zu einer Torheit hätte hinreißen können – wäre die Dame allein gewesen, ich hätte nicht einen Augenblick gezögert, sie in ihrer Loge aufzusuchen und auf jede Gefahr hin anzureden. Glücklicherweise aber befand sie sich in der Gesellschaft zweier anderer Personen, eines Herrn und einer auffallend schönen Dame, die allem Anschein nach ein paar Jahre jünger war als sie selbst.
Ich spann tausend Pläne, wie es zu ermöglichen sei, später die Bekanntschaft der älteren Dame zu machen und für einen Augenblick wenigstens ihre Schönheit genauer betrachten zu können. Ich dachte daran, meinen Platz mit einem, der mehr in ihrer Nähe war, zu vertauschen; da jedoch das Haus überfüllt war, ging dies nicht an. Die Gesetze des Anstandes und der Mode untersagten auf das strengste, sich zu solchen Zwecken eines Opernguckers zu bedienen. Selbst wenn ich im Besitz eines solchen gewesen wäre, ich hätte ihn nicht gebrauchen dürfen. Doch ich hatte nicht einmal einen bei mir und geriet in Verzweiflung.
Endlich fiel es mir ein, mich an meinen Begleiter zu wenden.
»Talbot«, sagte ich, »Sie haben einen Operngucker; leihen Sie ihn mir.«
»Einen Operngucker? Nein – was sollte ich mit einem Operngukker tun?« Mit diesen Worten wandte er sich ungeduldig der Bühne wieder zu.
»Hören Sie doch, Talbot«, fuhr ich fort und rüttelte ihn ein wenig an der Schulter, »hören Sie mir bitte einen Augenblick zu. Sehen Sie die Loge da in der Nähe der Bühne? Nein, die folgende. Haben Sie je eine so entzückende Frau gesehen?«
»Sie ist wirklich sehr schön«, bestätigte er.
»Ich möchte nur wissen, wer sie sein mag!«
»Wie? Du lieber Himmel, Sie wissen wirklich nicht, wer sie ist?
Das hätte ich von Ihnen am allerwenigsten erwartet. Es ist die berühmte Madame Lalande, die Schönheit des Tages, von der die ganze Stadt spricht. Sie ist unermeßlich reich. Witwe – eine brillante Partie und eben erst aus Paris herübergekommen.«
»Sind Sie mit ihr bekannt?«
»Ja – ich habe die Ehre.«
»Wollen Sie mich bei ihr einführen?«
»Gewiß, mit dem größten Vergnügen. Wann wollen Sie ihr einen Besuch abstatten?«
»Morgen! Gegen eins. Ich werde Sie abholen.«
»Gut! Aber jetzt seien Sie bitte still, wenn es Ihnen möglich ist!«
Ich mußte wohl oder übel Talbots Aufforderung Folge leisten, denn er blieb für jede weitere Frage oder Bemerkung hartnäckig taub und beschäftigte sich während des Restes des Abends ausschließlich mit den Vorgängen auf der Bühne.
Ich selbst wandte jedoch kein Auge von Madame Lalande, und endlich gewährte mir das Glück einen vollen Blick in ihr Gesicht. Es war von außerordentlichem Liebreiz, wie mein Herz es mir, schon ehe Talbot meine Ahnung bestätigte, verkündet hatte, und dennoch störte mich wieder jenes nicht zu erklärende Etwas, von dem ich schon einmal gesprochen habe. Ich schloß, daß es wohl ein gewisser Ausdruck von Ernsthaftigkeit, Traurigkeit oder vielmehr Abspannung sein mußte, der dem Gesicht etwas von seiner Frische und Jugendlichkeit nahm, ihm dafür jedoch eine wahrhaft seraphische Milde und Majestät verlieh, die es meinem leicht begeisterten, romantischen Temperament noch zehnmal interessanter erscheinen ließ.
Während ich so ganz in Anschauung versunken war, entnahm ich plötzlich zu meiner großen Bestürzung aus einem fast unmerklichen Aufzucken der Dame, daß ihr
Weitere Kostenlose Bücher