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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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Erscheinung aus der Oper, in Begleitung der jüngeren Dame, die in der Loge neben ihr gesessen hatte.
    »Ihre Begleiterin sieht auch noch immer gut aus«, bemerkte einer der Freunde.
    »Erstaunlich gut«, meinte der zweite, »ihr Äußeres ist immer noch ganz brillant; aber die Kunst kann Wunder tun. Auf mein Wort, sie sieht heute besser aus als vor fünf Jahren in Paris. Sie ist noch immer eine schöne Frau – finden Sie nicht, Froissart, ich wollte sagen Simpson?«
    »Allerdings!« wiederholte ich, »und weshalb sollte sie es auch nicht.
    Aber im Vergleich mit ihrer Freundin ist sie wie ein Kerzenlicht neben dem Abendstern – wie ein Glühwurm neben dem Antares.«
    »Hahaha! Simpson, Sie haben wahrhaftig das Talent, Vergleiche zu machen und noch dazu originelle.«
    Hierauf trennten wir uns, und mein Freund trällerte ein heiteres Liedchen vor sich hin, von dem ich nur die Worte verstand:
    Ninon, Ninon, Ninon à bas – A bas Ninon de l’Enclos.

    Während dieser kleinen Szene hatte sich etwas zugetragen, was mich außerordentlich tröstete, obwohl es die verzehrende Leidenschaft meines Herzens nur nährte. Als der Wagen der Madame Lalande an unserer Gruppe vorüberfuhr, hatte ich bemerkt, daß sie mich wiedererkannte. Ja, noch mehr als das! Sie hatte mich mit dem liebreizendsten Lächeln beglückt, ein nicht mißzuverstehendes Zeichen des Erkennens.
    Auf die Hoffnung, ihr vorgestellt zu werden, mußte ich wohl verzichten, bis es Talbot einfallen würde, von seinem Landaufenthalt zurückzukehren. Unterdessen besuchte ich mit unermüdlicher Ausdauer alle Vergnügungsorte der vornehmen Welt; und endlich traf ich sie wieder einmal im Theater, doch waren nach dem ersten Erlebnis schon vierzehn Tage verflossen, ehe ich wieder das Glück hatte, ein paar Blicke mit ihr wechseln zu können.
    In der Zwischenzeit hatte ich täglich nach Talbot gefragt, und jeden Tag versetzte mich das gleichgültige »Noch nicht zurückgekehrt!« des Dieners in einen Anfall von Raserei.
    An dem erwähnten Abend hatte sich mein Zustand so verschlimmert, daß ich dem Wahnsinn nahe war. Ich hatte gehört, daß Madame Lalande eine Pariserin und erst kürzlich aus ihrer Vaterstadt herübergekommen sei; konnte sie nicht plötzlich wieder heimreisen – abreisen, ehe Talbot zurückgekehrt war – und mir so für immer verloren sein? Ich wagte nicht, das Schreckliche auszudenken. Und da meine ganze Zukunft, mein Lebensglück auf dem Spiele stand, entschloß ich mich kurz zu einer männlichen Tat. Mit einem Wort: nach Schluß der Vorstellung folgte ich der Dame bis zu ihrer Wohnung, merkte mir ihre Adresse und schrieb ihr am nächsten Morgen einen langen, feurigen Brief, in welchem ich ihr mein ganzes Herz ausschüttete. Ich sprach kühn und frei, ich redete die Sprache der Leidenschaft. Ich verhehlte ihr nichts – selbst nicht meine Schwäche.
    Ich spielte auf die romantischen Umstände unserer ersten Begegnung an – selbst auf die Blicke, die wir gewechselt hatten. Ja, ich ging so weit, zu behaupten, daß ich auch ihrer Liebe gewiß sei, und bat sie, diese Gewißheit und meine eigene tiefe Verehrung als Entschuldigung für mein sonst unverzeihliches Betragen annehmen zu wollen. Dann sprach ich auch von meiner Befürchtung, daß sie die Stadt verlassen möchte, noch ehe mir zu einer offiziellen Vorstellung Gelegenheit geboten worden sei. Ich schloß diesen begeistertsten aller Liebesbriefe mit einer offenen Darlegung meiner Verhältnisse, meiner Vermögenslage und mit der Bitte um ihre Hand.
    In qualvoller Unsicherheit erwartete ich dann die Antwort. Eine Ewigkeit schien mir vergangen zu sein, als ich sie endlich erhielt.
    Ja, ich erhielt wirklich eine Antwort. So romantisch es sich wohl anhören mag: ich bekam einen Brief von Madame Lalande – der schönen, reichen, vergötterten Madame Lalande. Ihre Augen – ihre herrlichen Augen hatten mich nicht betrogen, sie besaß ein edles Herz. Als echte Französin war sie dem freien Antrieb ihres Wesens gefolgt und, nur ihrer vorurteilsfreien Vernunft gehorchend, hatte sie sich über alle konventionelle Prüderie der Welt hinweggesetzt. Sie war nicht erzürnt über meinen Antrag. Sie hatte sich nicht in Schweigen gehüllt, nicht meinen Brief uneröffnet zurückgesendet. Sie hatte mir mit ihren eigenen zarten Fingern eine Antwort geschrieben, die folgendermaßen lautete:

    ›Herr Simpson wird mich verzeihen, nicht seine prächtige Landessprache zu sprechen. Es ist nur kurze Zeit, daß ich hier bin,

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