Erzählungen
Betracht zu ziehen. Wir stellen die genauesten Berechnungen an. Nicht der fünfzigste Teil einer Linie könnte uns entgehen.
Nach den Schränken nahmen wir die Stühle vor. Die Polster wurden mit den langen, feinen Nadeln, die Sie wohl schon bei mir gesehen haben, untersucht. Von den Tischen hoben wir die Platten ab.«
»Wozu das?«
»Manchmal entfernt die Person, die einen Gegenstand verbergen will, die Platte des Tisches oder eines ähnlich gestalteten Gegenstandes, höhlt das Bein aus, legt den betreffenden Gegenstand in der Höhlung nieder und befestigt die Platte wieder. Die Bretter und Pfosten von Bettstellen werden auch oft zu ähnlichem gebraucht.«
»Aber könnte man eine solche Höhlung nicht durch Klopfen entdecken?« fragte ich.
»Absolut nicht, wenn man nach dem Hineinlegen des Gegenstandes die Aushöhlung mit Watte gefüllt hat. Überdies mußten wir in unserem Falle jedes Geräusch nach Möglichkeit vermeiden.«
»Aber Sie konnten doch unmöglich al e die Möbel auseinandernehmen oder in Stücke zerbrechen, in denen man möglicherweise einen Brief hätte verstecken können. Ein solch kleines Schriftstück kann man so fest zusammenrollen, daß es in Gestalt und Umfang kaum von einer Stricknadel abweicht, und einen solchen Körper könnte man mit Bequemlichkeit zum Beispiel in die Leiste eines Stuhles einlegen. Sie werden doch nicht alle Stühle zerlegt haben?«
»Gewiß nicht! Aber wir machten es noch gründlicher, wir untersuchten die Leisten jedes Stuhles im Hause, ja, sogar die einzelnen Teile jeder Art von Möbel mit einem stark vergrößernden Mikroskop.
Wären irgendwo die Spuren einer kurz zuvor geschehenen Abänderung sichtbar gewesen, so wäre es uns gewiß nicht entgangen. Ein einziges Körnchen Sägemehl zum Beispiel, das der Bohrer hätte zurücklassen können, wäre in der Größe eines Apfels sichtbar gewesen. Die geringste Ungenauigkeit bei dem erneuten Leimen, das unbedeutendste Klaffen in dem Gefüge hätte unfehlbar zur Entdeckung geführt.«
»Sie untersuchten natürlich auch die Spiegel, die Dielen, das Eßgeschirr und durchstöberten Betten, Bettzeug so gut wie auch Vorhänge und Teppiche?«
»Selbstverständlich, und als wir mit jedem Möbelteilchen fertig waren, untersuchten wir das Haus selbst. Wir teilten seine ganze Oberfläche in Abteilungen, die wir mit Zahlen bezeichneten, damit wir keine übergingen. Dann durchforschten wir jeden Quadratzoll des Hauses mit dem Mikroskop und untersuchten schließlich auch die beiden Nebenhäuser in derselben Weise.«
»Auch die beiden Nebenhäuser?« rief ich aus. »Welch unendliche Mühe müssen Sie gehabt haben!«
»Die hatten wir allerdings, aber die ausgesetzte Belohnung ist auch enorm.«
»Haben Sie auch den Grund und Boden der Häuser untersucht?«
»Der Boden war überall mit Ziegelsteinen gepflastert und machte uns verhältnismäßig wenig Mühe. Wir untersuchten das Moos zwischen den einzelnen Steinen und fanden es überall unberührt.«
»Sie durchforschten auch D.s Papiere und die Bücher seiner Bibliothek?«
»Gewiß! Wir öffneten jedes Päckchen, jedes Heftchen; wir begnügten uns nicht damit, nach der Art einiger Polizeibeamten, ein Buch einfach zu schütteln, sondern wendeten jedes Blatt in jedem Band um. Die Dicke eines jeden Buchdeckels maßen wir auf das genaueste ab und unterwarfen ihn der peinlichsten mikroskopischen Untersuchung. Es ist vollständig ausgeschlossen, daß einer der Einbände neuerdings aufgeschnitten und wieder zusammengefügt worden ist – diese Tatsache hätte uns auf keinen Fall entgehen können.
Etwa fünf oder sechs Bände, die eben vom Buchbinder gekommen waren, durchsuchten wir sorgfältig mit unseren Nadeln.«
»Haben Sie auch den Fußboden unter den Teppichen durchforscht?«
»Aber selbstverständlich, wir nahmen jeden Teppich auf und untersuchten die Dielen mit dem Mikroskop.«
»Auch die Tapeten an den Wänden?«
»Ja.«
»Besichtigten Sie auch die Keller?«
»Ebenfalls.«
»Dann müssen Sie sich also verrechnet haben«, sagte ich, »und der Brief befindet sich nicht im Hause des Ministers.«
»Ich fürchte, Sie haben recht«, sagte der Präfekt. »Und nun, Dupin, was würden Sie mir raten, zu tun?«
»Noch einmal eine gründliche Haussuchung vorzunehmen.«
»Das ist vollständig nutzlos«, sagte G., »so gewiß ich weiß, daß ich lebe, so gewiß befindet sich der Brief nicht in dem Hause.«
»Einen besseren Rat kann ich Ihnen nicht geben«, sagte Dupin.
»Sie
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