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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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bin bescheiden und demütigen Herzens. Denn was ist es schließlich – jenes undefinierbare Etwas, das die Menschen ›Genie‹ nennen? Ich gebe Buffon und Hogarth recht: im Grunde genommen ist es nur Fleiß.
    Seht mich an! – wie ich arbeitete, wie ich schuftete, wie ich schrieb.
    Schrieb ich vielleicht nicht, o Götter? Das Wort ›Muße‹ war mir unbekannt. Bei Tage klebte ich an meinem Pult, und bei Nacht arbeitete ich, blaß und überwacht, beim Scheine des Öllämpchens, noch um Mitternacht. Ihr solltet mich damals gesehen haben. Ich stützte mich rechts auf, ich stützte mich links auf, ich stützte mich nach vorn auf beide Ellenbogen. Ich lehnte mich zurück. Ich saß ›tête baissée‹ (wie es bei den Kickapoos heißt) und neigte meinen Kopf dicht auf das alabasterweiße Papier. Und bei alledem – ich schrieb, schrieb. Bei Freude und bei Schmerz – ich schrieb. Bei Hunger und Durst – ich schrieb.
    Bei guten Erzählungen und schlechten Nachrichten – ich schrieb.
    Bei Sonnenschein, bei Mondschein – ich schrieb. Was ich schrieb, tut nichts zur Sache. Der Stil ist das Wesentliche. Ich verdanke ihn Meister Fettquaker – st! st! – und hier habt ihr ein Pröbchen davon.

DER ENTWENDETE BRIEF
    The Purloined Letter ()
    Nil sapientiae odiosius acumine nimio (Seneca)

    Ich war im Jahre . in Paris. An einem dunklen, stürmischen Herbstabend erfreute ich mich im dritten Stockwerk des Hauses Nr.  der Rue Donot, Faubourg St. Germain mit meinem Freunde August Dupin in dessen kleinem Bibliothek- oder Studierzimmer des doppelten Genusses einer Meerschaumpfeife und beschaulichen Nachdenkens. Seit wenigstens einer Stunde waren wir in tiefes Schweigen versunken, und jeder zufällige Beobachter hätte geglaubt, daß wir uns angelegentlichst und ausschließlich mit den Rauchwolken beschäftigten, die das ganze Zimmer einhüllten. Ich erwog jedoch in Gedanken noch einige Punkte der Unterredung, die ich zu Anfang des Abends mit meinem Freunde gehabt und welche sich auf die Begebenheiten in der Rue Morgue und auf den geheimnisvollen Mord der Marie Rogêt bezogen hatte. Ich mußte es deshalb für ein sonderbares Zusammentreffen halten, daß, als sich die Tür unseres Zimmers öffnete, unser alter Bekannter, Herr G., der Pariser Polizeipräfekt, eintrat.
    Wir begrüßten ihn auf das herzlichste; denn wenn der Mann auch manche verächtlichen Eigenschaften besaß, so war er doch sehr unterhaltend, und wir hatten ihn sehr lange nicht gesehen. Da wir bis jetzt im Dunkeln gesessen hatten, erhob sich Dupin, um eine Lampe anzuzünden, doch setzte er sich sogleich wieder, als G. sagte, er sei gekommen, um uns um Rat zu fragen oder vielmehr die Meinung meines Freundes über ein Amtsgeschäft einzuholen, das ihm schon große Unruhe bereitet habe.
    »Wenn es sich um einen Fall handelt, der Nachdenken erfordert«, warf Dupin ein und hielt mit dem Anzünden inne, »so ist es besser, wir prüfen ihn im Dunkeln.«
    »Das ist wieder eine Ihrer Sonderbarkeiten«, sagte der Präfekt, der geneigt war, alles, was über sein Begriffsvermögen hinausging, ›sonderbar‹ zu nennen und daher mitten in einer unendlichen Schar von ›Sonderbarkeiten‹ lebte.
    »Sehr richtig«, antwortete Dupin, während er den Gast mit einer Pfeife versorgte und einen bequemen Sessel für ihn heranschob.
    »Um was für Schwierigkeiten handelt es sich denn wieder?« fragte ich. »Doch nicht um eine neue Mordsache?«
    »O nein, um nichts Derartiges. Eigentlich liegt der Fall sehr einfach, und ich zweifle nicht im geringsten, daß wir auch allein mit ihm fertig werden. Aber ich dachte mir, Dupin würde gern Näheres über die Sache erfahren, weil sie so außerordentlich ›sonderbar‹ ist.«
    »Einfach und sonderbar!« sagte Dupin.
    »Allerdings, und doch ist dieser Ausdruck noch nicht exakt genug.
    Der Fall hat uns alle vollständig verblüfft, denn, so einfach er ist, es weiß doch keiner von uns recht aus noch ein.«
    »Vielleicht ist es gerade die Einfachheit, welche Sie auf die falsche Fährte leitet«, meinte mein Freund.
    »Wie kann man nur solchen Unsinn reden!« antwortete der Präfekt und lachte herzlich.
    »Viel eicht ist das Geheimnis zu leicht zu durchschauen«, sagte Dupin.
    »Du lieber Himmel, hat man je so was gehört? ›Vielleicht ist die ganze Sache zu durchsichtig.‹ Ha! Ha! Ha! – Ho! Ho! Ho!« lachte unser Gast vor Vergnügen laut auf. »Dupin, ich werde noch mal an Ihren Witzen sterben.«
    »Um was handelt es

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