Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Größe hunderteins gingen um die Welt. Im Süden wurde eine Gruppe Archäologen regelmäßig von einer wild gewordenen Mumie mit Spitznamen »Ramses« verfolgt und zum Teil sogar geschwängert. Die Presse berichtete ausführlich über die Australierin Elisabeth John, die mit Ramses in Kontakt kam und wenig später einen Sohn gebar, der sofort nach seiner Geburt in einem Internat für Hochbegabte in der Schweiz vor der Öffentlichkeit versteckt wurde. Die Mumie »Ramses« wurde von einer Spezialeinheit quer durch Ägypten gejagt, schließlich in der Wüste umzingelt und angeblich ausgelöscht, aber nicht ganz. Ihre Überreste wurden jedoch nie gefunden. Laut einer alten Prophezeiung sollte die Mumie, wenn es ihr gelang, für Nachwuchs zu sorgen, unsterblich werden. Nicht zuletzt die großzügigen Unterhaltszahlungen an den Mumiensohn, die über Jahre regelmäßig von einer Bank in den Arabischen Emiraten in die Schweiz überwiesen wurden, dienten dafür als Beweis.
In Schottland schwamm zur gleichen Zeit das Ungeheuer von Loch Ness herum, immer wieder streckte es seinen fünf Meter langen Hals aus dem Wasser, aber immer nur dann, wenn die am Ufer stehenden Touristen gerade keinen Film in ihren Kameras hatten.
Die Bereitschaft, einem Wunder zu begegnen, war im vorigen Jahrhundert enorm hoch. Jeder sah, was er sehen wollte. In Russland waren es überwiegend Außerirdische, allesamt klein, grün und sehr gefährlich, manchmal auch noch mit kleinen Hörnern oder durchsichtigen Kugeln auf dem Kopf. Jeder Bürger, der etwas auf sich hielt, musste ihnen mindestens einmal im Leben begegnet sein. In jeder Großstadt gab es einen Ort, der bei den Außerirdischen besonders beliebt war. In Moskau stand eine Birkenheide in der Nähe der Chaussee der Enthusiasten in dem Ruf, ein begehrter Landeplatz für Besucher aus dem All zu sein. Dort hielten die Moskauer Ufologen Wache, um Kontakt mit den fremden Intelligenzbestien aufzunehmen. Letztere mieden jedoch die bärtigen Ufologen, stattdessen nahmen sie oft und gerne Kontakt zu jungen Frauen aus der Moskauer Umgebung auf. Regelmäßig berichtete die sowjetische Presse über Schwangerschaften durch Außerirdische. Die meisten jungen Mädchen wurden in hypnotisiertem Zustand von einer grünen, leuchtenden Pfütze eingesaugt und wenig später auf der Chaussee der Enthusiasten ohne jede Erinnerung wieder abgesetzt. Manchmal fielen auch ältere Menschen den Außerirdischen zum Opfer: Kranke wurden durch diese Kontakte gesund, Gesunde krank. Die kritische Wende in der Beziehung
zu den Außerirdischen kam nach dem Zerfall der Sowjetunion. Ab da wurden die Kontakte immer seltener, bis sie Mitte der Neunzigerjahre völlig abbrachen. Als hätten die Besucher aus dem All nach dem Fall des Sozialismus jegliches Interesse an uns verloren.
Aber auch andernorts machten sie sich aus dem Staub. Vieles deutet darauf hin, dass sie unseren Planeten nicht mit leeren Händen verließen. Sie nahmen den Schneemenschen Yeti mit, das Ungeheuer von Loch Ness, das Bermuda-Dreieck, den Fliegenden Holländer und die unsterbliche Mumie »Ramses«, deren Sohn inzwischen in meinem Alter sein müsste. Er ist alles, was wir noch haben. Ich hoffe, es geht ihm gut.
Die Grundfragen des vorigen Jahrhunderts
Im Nachhinein ist man immer klüger, aber nie klug genug. Man lebt vor sich hin, schließt mal die eine, mal die andere neue Bekanntschaft, geht am Wochenende ins Kino, meckert über dies und das, um dann eines Tages plötzlich festzustellen, dass eine zauberhafte, erfüllte und glückliche Zeit an einem vorbeigezogen ist, ohne dass man es gemerkt hat.
Ich war schon immer ein Spätentwickler und Nachdenker. Die Tatsache, dass ich in einer sozialistischen Diktatur aufgewachsen bin und ein Vierteljahrhundert darin verbracht habe, ist mir erst im Nachhinein
bewusst geworden – als diese Diktatur längst den Löffel abgegeben hatte. Noch später erfuhr ich, wie schlecht die Welt auf unsere Diktatur eigentlich zu sprechen gewesen war. Die Welt hielt sie für dämlich und gemeingefährlich. Den Beweis dafür lieferten die fiesen Pseudorussen aus den alten und neuen amerikanischen Actionfilmen. Sie waren allesamt wild, unrasiert und unberechenbar. Selbst wenn sie keine Uniform trugen und eigentlich auf der amerikanischen Seite kämpften, stolperten sie durch den Film wie betrunkene Bären.
Dabei hatte sich unsere Diktatur stets bemüht, nach innen und außen gut auszusehen. Sie investierte dafür Unsummen in
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