Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
verlegen. Sie schaufelten Labyrinthe und bewegten sich hauptsächlich unterhalb der Schneedecke von zu Hause zur Arbeit und zurück. Anstatt mit »Guten Tag!« begrüßten die Fußgänger einander mit Worten wie: »Vorsicht, Wange!«, »Pass auf, Nase!«, »Achtung, Kinn!« Damit wiesen sie auf die weißen Flecken im Gesicht ihres Gegenübers hin, die auf eine lokale Erfrierung schließen ließen. Der Betreffende nahm eine Handvoll Schnee und rieb sich damit so lange das Gesicht, bis der Fleck wieder rot wurde. Erst Mitte Juni begann der Schnee auf Sachalin zu schmelzen und hinterließ riesige Pfützen, die nur mit einer Fähre zu überqueren waren. Deswegen kann meine Frau bis heute keinen Schnee leiden und die Begeisterung mancher Mitteleuropäer für dieses Saisonprodukt überhaupt nicht teilen.
Neulich waren wir in den Schweizer Bergen, dem ersten Urlaubsort der Welt, einem Skiparadies, in dem es nur so vor Schnee knisterte. Auf jeder Straße sah man kleine Schneeberge, in denen man mit etwas Fantasie große Autos, kleine Hütten oder betrunkene Skiläufer erkennen konnte. Unsere Schweizer Gastgeber prahlten mit ihrem Schnee und hörten meiner Frau mit Erstaunen zu, die Schnee als schlecht, gar als Faschismus der Natur beschimpfte. Inzwischen fällt aber selbst im tiefsten Norden viel weniger Schnee.
Im neuen Jahrhundert scheint mir vieles geschrumpft zu sein. Die Lutscher sind sehr handlich geworden und lösen sich auf, noch bevor man sie in den Mund gesteckt hat. Die Würste sind unheimlich dünn geworden, die Zugabteile sehr eng. Das zentrale russische Heizungssystem fällt immer öfter aus, die Bahn wurde gar zum Teil privatisiert, und man kann sich heute gegen entsprechende Bezahlung einen ganzen Waggon mieten, mit Tee und Champagner und einem eingebauten Fernseher, in dem nonstop Pornofilme laufen – von Saratow bis nach Wladiwostok. Die alten Frauen mit ihrem Kartoffelpüree sind von den kleinen Bahnhöfen verschwunden, sie wurden mit dem Zauberstab des Kapitalismus in Hot-Dog-Automaten verwandelt. Nur der
erste Schnee fällt noch immer nachts, und manche Pfützen auf Sachalin sind so groß wie früher geblieben.
Boney M.
Die Liebhaber der kapitalistischen Musik hatten es nicht leicht in der Sowjetunion. Diese Musik kam nur selten und unregelmäßig in unser Land, in der Regel in einem Diplomatenkoffer oder durch den KGB. Es mag manchem unglaubwürdig vorkommen, aber auch sowjetische Spione, Diplomaten und Politiker, die beruflich mit dem Ausland zu tun hatten, besaßen Kinder. Wenn sie von der Regierung zu irgendeinem Kongress in den Westen geschickt wurden, bekamen sie von ihren Söhnen und Töchtern eine Einkaufsliste mit auf den Weg. Sie mussten dann zum Beispiel in einen Musikladen gehen, die schrillste,
bunteste Platte im Eingangsbereich kaufen und sie möglichst unversehrt mit nach Hause bringen.
Die KGB-Söhne und -Töchter konnten mit dieser Musik angeben, sie überspielten die Platten auch für ihre Freunde, die wiederum andere Freunde hatten – und so kam die kapitalistische Musik unters Volk. Damals war das Internet noch nicht erfunden, im Radio empfing man auf Kurzwelle meist nur das Rauschen des Weltalls, und Kassettenrekorder waren eine Seltenheit. Aber die meisten hatten Tonbandgeräte zu Hause – groß, schwer und robust. Diese Geräte hatten kosmische Namen: »Orbit 106«, »Komet 208« usw.
Das Musiküberspielen glich einem Ritual, einer Raumschiffankopplung, die manchmal mehrere Tage dauerte. Der Musikliebhaber musste seine Tonbandmaschine zu einem anderen Musikliebhaber mit Gerät bringen. Sie verbanden ihre Maschinen mit einem dicken Kabel und ließen die Musik fließen. Bei diesen Geräten konnte man die Geschwindigkeit regulieren und sogar Mono auf vier Spuren aufnehmen, so dass auf ein Tonband bis zu acht Stunden Musik passten, wobei natürlich die Qualität erheblich litt. So entstanden die ersten sowjetischen Mixe. Sie waren sehr lang, hatten einen echten Underground-Sound, die Songs waren oft durcheinandergebracht und die Namen der Interpreten verloren gegangen.
Man wunderte sich, warum dieselbe Band jeweils nach zehn Titeln ihren Stil, die Musik und den Sänger komplett ausgewechselt hatte.
Während der Musikliebhaber im Westen von den Musikproduzenten aus aller Welt systematisch mit dem neuesten Stoff versorgt wurde und dabei eine individuelle Musikauswahl treffen konnte, formte sich unser Musikgeschmack aus dem wilden Umherirren der sowjetischen Spione durch die
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