Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
konnte, ohne mich zu bücken; ein Stuhl war nur mit Anlauf zu besteigen. Auf diesem Stuhl und auf Zehenspitzen stehend, schaffte ich es gerade, mir einen Lutscher aus dem Küchenschrank zu grabschen. Die Lutscher des vorigen Jahrhunderts
waren übrigens auch sehr groß und extrem langlebig. Eine ganze Familie konnte daran einen Tag lang lecken.
Ähnlich groß waren andere Lebensmittel: gelbe Gurken, Tomaten wie Kinderköpfe, und auch die Wurst war sehr dick und wurde in der Regel in Papier eingewickelt unter dem Arm nach Hause getragen. Sie sah von Weitem aus wie eine Teppichrolle.
Die Natur war im vorigen Jahrhundert wilder, die Wälder dichter, ein Baum dicker als der andere. Und auch das Land an sich war viel größer als heute. Man musste tagelang mit dem Zug fahren, um seine Tante, Oma oder Geliebte zu besuchen. Man konnte natürlich auch fliegen, doch die Flugzeuge galten damals als unsicheres Transportmittel, sie flogen nicht bei Nebel, Regen oder Schnee, wenn der Wind zu stark wehte oder wenn der Pilot nicht erschienen war. Die Fluggäste verbrachten Tage auf dem Flughafen, in der Hoffnung auf einen günstigeren Wind. Die Schlauen quartierten sich auf den Bänken im »Mutter-Kind«-Zimmer ein, die Übrigen saßen auf Treppen oder einfach auf dem Boden in der Abflughalle. Sie konnten sich nicht einmal bei der Regierung beschweren, denn die Flüge waren allein vom Wetter abhängig, und das Wetter im vorigen Jahrhundert war fast immer schlecht.
Deswegen entschieden sich die meisten Reisenden für die Bahn. Die Züge des vorigen Jahrhunderts fuhren bei jedem Wetter, zwar nicht immer dorthin, wohin man wollte, aber das nahmen die Menschen gelassen hin, denn Zug fahren war damals eine lustige Angelegenheit. Die Züge waren sehr lang und hatten große geräumige Abteile. Man konnte in einem Abteil zu sechst nebeneinandersitzen. Weil die Zugfahrten so lange dauerten und man den festgelegten Ankunftszeiten misstraute, schleppten die Passagiere säckeweise Proviant mit sich, um nicht unterwegs zu verhungern.
Eigentlich fuhren die Züge immer pünktlich, nur in Ausnahmesituationen konnte es zu Verspätungen kommen. Der Verkehr wurde damals ganz ohne Computer per Hand geregelt. Und wenn sich zum Beispiel zwei Züge, die in entgegengesetzter Richtung fuhren, auf dem gleichen Gleis trafen oder die Schienen verkehrt herum lagen oder der Lokführer unterwegs eine Lokführerin kennengelernt hatte, konnte es zu erheblichen Verspätungen kommen. Dann fingen alle im Zug an zu essen: Hühnerschenkel, Pellkartoffeln, Schweinebraten, gekochte Eier, Buletten … Der ganze Zug aß, trank und sang lustige Lieder über wahre Liebe und echte Freundschaft, und oft gingen die Lebensmittelvorräte zur Neige, noch bevor der Zielbahnhof
erreicht war. Für diesen Fall der Fälle standen an jedem kleinen Zwischenbahnhof alte Frauen mit Eimern voller Kartoffelpüree. Sie verkauften auch Alkohol und selbst gestrickte warme Socken. Die Omas deckten eine wichtige Bedarfslücke, sie retteten die Zuginsassen vor dem vorzeitigen Verhungern und Verdursten und besserten damit ihre Rente auf. Alkohol und Kartoffelpüree gingen in Sekundenschnelle eimerweise weg. Die Socken dagegen wurden kaum gekauft, weil es im Zug auch ohne Socken sehr warm war.
Das Wetter im vorigen Jahrhundert war, wie gesagt, sehr schlecht, deswegen heizte man wie verrückt. Das ganze Land war an ein zentrales Heizungssystem angeschlossen, das bemüht war, überall und rund um die Uhr die optimistische Pauschaltemperatur von achtunddreißig Grad Celsius zu halten. Einmal im Jahr wurde das zentrale Heizungssystem wegen Wartungsarbeiten heruntergefahren, und zwar immer dann, wenn der erste Schnee fiel. Der erste Schnee im vorigen Jahrhundert kam jedes Mal nachts, manchmal am frühen Morgen, aber auf jeden Fall plötzlich und unerwartet wie ein Gerichtsvollzieher. Man stand eines Tages auf, seufzte, schaute aus dem Fenster und erschrak: Alles war weiß.
Bei uns in Moskau wurde der erste Schnee ziemlich
schnell von den Autos zu Matsch gefahren. Es blieb aber immer genug übrig, um jeden Abend eine Armee von Schneemännern und Schneefrauen zu bauen. Auf der Insel Sachalin, so erzählte mir meine Frau, blieb der Schnee eigentlich fast das ganze Jahr über liegen, dabei kam im Winter täglich neuer Schnee dazu. Während anderswo der Schnee mit großen Traktoren von der Straße gefegt wurde, mussten die Bewohner von Sachalin im Winter ihre Straßen unter dem Schnee jedes Mal neu
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