Es geht auch anders
Durcheinanderlaufen, die Feuerwehr rückte an mit fünfzig Mann, löschte, fuhr die Verletzten ins Krankenhaus – es war ein einziges Chaos.
Mit einer eisernen Hacke in der Hand lief ich aus dem Haus. Silvia und Beate kamen mir entgegen und berichteten, es sei alles vorbei. Sie hielten mich fest und bugsierten mich wieder ins Haus. Sie wussten, wenn mir jemand unter die Hände gekommen wäre, hätte ich zugeschlagen, ohne Rücksicht auf Verluste.
Eine Stunde später ging ich mit der Taschenlampe in den Garten, sah die zerschlagenen Stände, die Flaschenscherben, den zerstörten Plattenspieler und die zertrümmerte Musikbox. Ich fegte die Scherben der Kellertürscheiben vom Parkweg und dachte: Wie sich die Bilder gleichen!
Ich fuhr mit der Straßenbahn durch Mahlsdorf-Süd Richtung Köpenick und sah aus dem Fenster: Der Lebensmittelladen Egona war ebenso zerschlagen wie das jüdische Seifengeschäft Wasservogel, auch das jüdische Kaufhaus Cohn in Köpenick hatte keine Fensterscheiben mehr. Die Straßenbahn hielt in der Altstadt, direkt gegenüber einem Textilgeschäft. Die junge Inhaberin, tränenüberströmt, fegte die Reste ihrer Habe zusammen. Drei SA-Männer standen breitbeinig neben ihr: »Du olle Judensau, jetzt lernste endlich mal arbeiten.« Ich war so wütend, krallte meine Hand um eine Haltestange in der Bahn. Sie traten die Frau mit ihren schweren Stiefeln in die Hüfte, sie fiel in die Glasscherben. Die Straßenbahn fuhr weiter. Als ich von der Schule zurückkam, waren alle Geschäfte mit Brettern vernagelt. Es war der Morgen des 10. November 1938.
Zu Hause erzählte unser Dienstmädchen, wie die Nazis in den anderen jüdischen Geschäften gewütet hatten: »Herr Brauner«, sagte sie mit vor Empörung zitternder Stimme zu meinem Großonkel, »Sie machen sich ja keine Vorstellung, wie bei Tietz, bei Wertheim und Brandmann die Geschäfte zerschlagen wurden. Bei Brandmann haben sie alle Standuhren durch die Schaufensterscheiben auf die Straße geworfen. Und die SA-Männer sind mit Stiefeln in die Glaskästen und haben die Gewichte, die schweren Gewichte, auf die Zifferblätter geworfen und sich die Taschen gefüllt mit Gold und Juwelen. Das ist ja ein Verbrechen!«
Konnte das wahr sein? Die in ganz Berlin bekannte Firma Brandmann, deren Werbung ich im Radio immer mit Wonne gehört hatte, zerstört? Bim, bam!, tönte es aus dem Radio, und dann folgte die Werbung für die Brandmann-Standuhren in der Münzstraße. Wie oft gingen mein Großonkel und ich an den Auslagen vorbei, und was war ich beglückt, die schönen Uhren im Schaufenster zu sehen.
Unwillkürlich begann mein Großonkel zu flüstern: »Emmi, behalten Sie das alles für sich, wir müssen vorsichtig sein. Wer weiß, was noch alles kommt.« Ja, das war weise gesprochen von meinem Großonkel, dem ich so vieles verdanke.
In Mahlsdorf, einem verträumten Dörfchen am Ostrand Berlins, hatte ich zehn Jahre zuvor, am Sonntag, dem 18. März 1928, das Licht der Welt erblickt. Ich, Lothar Berfelde.
… und weiter geht’s:
Charlotte von Mahlsdorf
Ich bin meine eigene Frau
Ein Leben
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter Süß
Mit einem Fotoessay von Burkhard Peter
ISBN 978-3-86034-504-7
Lotti Huber
Diese Zitrone hat noch viel Saft!
In Berlin fanden Norman und ich eine wunderschöne Altbauwohnung in der Nähe des Kurfürstendamms. Während Norman seinen neuen Job antrat, schlenderte ich durch die Stadt. Ich erkannte viele Straßen und Gebäude aus den dreißiger Jahren wieder, aber vieles war auch abgerissen worden oder hatte sich verändert. Hochhäuser waren entstanden, und dennoch: Es war Berlin! Der Kurfürstendamm, der Tauentzien, das KaDeWe … Aber da waren auch die Blicke älterer Menschen, die mich streiften: fragend, neugierig, nicht sehr freundlich. Ich schaute ihnen ins Gesicht: Du und du und vielleicht auch du – was habt ihr in der Nazi-Zeit gemacht? Geschwiegen, denunziert, gemordet …? Nicht hysterisch werden, befahl ich mir. Berlin war jetzt meine Heimat. Norman, mein geliebter Mann, war glücklich in seiner neuen Arbeit und hatte sich spontan in die Stadt verliebt.
Norman und ich fingen endlich an, unser Dasein in Europa zu genießen. Nun hatten wir genug Zeit, zusammen zu leben und nicht nur zu schuften. Mit unserem Auto kutschierte er mich durch Berlin und wusste bald besser Bescheid als ich. »Siehst du«, sagte er jedes Mal, wenn wir an der »Goldelse«, der Siegessäule, vorbeifuhren, »dass sie noch da
Weitere Kostenlose Bücher