Edelweißpiraten
27. November 1944
Die Bilder verfolgen mich. Sie lassen mich nicht los. Drei Tage ist es her, dass sie meinen Bruder ermordet haben. Aber ich sehe es immer noch jede Sekunde vor mir.
Tom und Flint wollten nicht, dass ich hingehe. Sie hatten Angst, mir könnte was zustoßen. Dachten, die Gestapo würde mich erkennen und einkassieren. Aber ich hab nicht auf sie gehört. Ich musste hin. Schließlich haben sie nachgegeben und sind mitgekommen, um wenigstens dafür zu sorgen, dass ich keine Dummheiten mache.
Es war in der Hüttenstraße. Da, wo die Hinrichtungen seit ein paar Monaten sind. Vor dem Ehrenfelder Bahnhof.
Als wir ankamen, war der Platz schon voll. Überall Schaulustige, angelockt von den Plakaten. Stumpfe, sensationsgierige Gesichter. Wir haben uns unter sie gemischt. Gleich vor dem Bahnhof hat der Galgen gestanden. Zwei lange Querbalken, durch ein Gerüst abgestützt. Der untere für die Füße, über den oberen waren die Schlingen geworfen.
Weiter vorn hab ich meine Mutter gesehen. Zwei Frauen haben sie gestützt. Ich wär am liebsten zu ihr gelaufen, aber Tom und Flint haben mich zurückgehalten. Die Spitzel von der Gestapo waren überall. Standen da, gaben sich unauffällig. Horchten, ob einer was Falsches sagt. Lauerten auf Leute wie uns, die auf den Fahndungslisten stehen. Wir haben die Köpfe eingezogen und die Kapuzen ins Gesicht gedrückt.
Nach ein paar Minuten ist die SS aufmarschiert. Als ich sie gesehen hab mit ihren Maschinenpistolen, da wusste ich, dass alles, worauf ich gehofft hatte, vergebens war. Insgeheim hatte ich mit dem Gedanken gespielt, meinen Bruder zu befreien. Aber es war sinnlos. Alles, was ich an Waffen besaß, waren ein altes Messer und einer von unseren primitiven Molotowcocktails.
Meine Mutter hat sich umgedreht, als würde sie mich suchen. Ängstlich und verzweifelt hat sie ausgesehen. Hilflos. Ohne dass ich’s eigentlich wollte, hab ich die Hand in die Tasche geschoben und das Messer umklammert. Vielleicht sollte ich gehen, hab ich noch gedacht. Jetzt sofort – bevor es zu spät ist.
Aber dann war auch schon der Lastwagen mit den Gefangenen da. Sie haben auf der offenen Ladefläche gesessen, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Auch Horst war dabei. Er trug seine SS-Uniform, aber die Rangabzeichen, auf die er früher so stolz gewesen ist, waren runtergerissen. Zusammen mit den anderen haben sie ihn zum Galgen gezerrt. Er ist mit gesenktem Kopf auf den Balken gestiegen. Während ihm einer der SS-Männer die Schlinge um den Hals gelegt hat, hat er mit leerem Blick vor sich hin gestarrt.
Gleich darauf hat ein Gestapomann den Hinrichtungsbefehl verlesen. Ich hab nichts davon mitbekommen. Hab nur Horst gesehen. Meinen Bruder! Der früher immer so stark gewesen war. Den ich bewundert hatte. Jetzt lag der Strick um seinen Hals. Doch in dem Moment, als ich ihn angesehen hab, hat er plötzlich den Kopf gehoben. So, als wenn er mich suchen würde.
Ich hab das Messer losgelassen und den Molotowcocktail gepackt. Hab gedacht: Wenn ich es schaffe, ihn zu entzünden und so zu werfen, dass er unter den SS-Leuten hochgeht? Wenn sie in Panik geraten? Vielleicht könnte ich Horst in dem Tumult befreien, und dann würden wir …
Aber noch bevor ich dazu kam, etwas zu tun, ist Tom bei mir
gewesen. Er muss mich beobachtet haben. Wahrscheinlich hat er geahnt, was ich vorhatte. Er hat meine Hand gepackt und mich festgehalten.
Ich bin zusammengesackt und hab die Augen geschlossen. Er hatte recht. Ich wusste es ja selbst, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Ein paar Sekunden standen wir so, dann ging ein Raunen durch die Menge. Ich musste nicht hinsehen, um zu wissen, warum: Die SS hatte mit der Hinrichtung begonnen. Die Stricke wurden mit einem Ruck stramm gezogen, die Gefangenen verloren den Halt auf dem Balken und strampelten im Todeskampf in der Luft. Bei jedem das gleiche grausige Schauspiel.
Als ich die Augen wieder aufgemacht hab, hat Horst noch dagestanden. Aber sein Nebenmann wurde gerade in die Höhe gezogen, er würde der Nächste sein. Ich konnte den Anblick nicht ertragen und hab versucht, mich von Tom zu befreien. Da ist von der anderen Seite Flint gekommen. Er hat mich gepackt, mir die Hand vor den Mund gehalten und Tom zugenickt. Dann haben sie mich weggeschleppt.
Über die Köpfe der Leute hab ich gesehen, wie mein Bruder in die Höhe gerissen wurde. Und ich hab den Schrei meiner Mutter gehört. Hab mich aufgebäumt, wollte mich von Tom und Flint losreißen. Aber sie
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