Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
Angeklagebank. Kappe zählte nach und staunte, dass nur sieben der Angeklagten vorbestraft waren, davon nur zwei erheblich. Sein Kommentar dazu war nur ein langgezogenes «Hm. ..», denn nach Mob sah das hier wahrlich nicht aus.
Es begann nun eine endlose Debatte um Verfahrensfragen, und Kappe war geradezu froh über die kleine Abwechslung, die ihm die Angeklagte Elli Reinhardt, eine Näherin, bereitete. Während der Ausführungen ihres Anwalts begann sie heftig zu schluchzen und musste aus dem Saal geführt werden.
Besonders ins Zeug legte sich der Anwalt Blau. «Mein Klient, der Monteur Josef Albrecht, würde körperlich und wirtschaftlich aufs Schwerste geschädigt werden, wenn man ihn zwänge, vier Wochen lang den Verhandlungen gegen die übrigen Angeklagten beizuwohnen. Ich stelle also den Antrag auf Abtrennung. Zudem ist er ein ‹Gelber›, steht also zu den sozialdemokratischen Exzessen in keinerlei Zusammenhang.»
«Ich protestiere aufs Schärfste dagegen, dass hier von sozialdemokratischen Exzessen gesprochen wird!», rief der Rechtsanwalt Dr. Rosenfeld dazwischen. «Es handelt sich hier eher um Exzesse der Schutzmannschaft.»
Das ging dem Landgerichtsdirektor zu weit. «Ich untersage Ihnen hier derartige Redewendungen!»
«Auch ich weise die Behauptung, dass es sich um sozialdemokratische oder gewerkschaftliche Unruhen handelt, scharf zurück!», ließ sich der Rechtsanwalt Dr. Heinemann vernehmen.
Dr. Heinemann war es auch, der im Namen der Verteidigung den Antrag stellte, die Sachen, die nach ordnungsgemäßem Geschäftsplan nicht vor die 3. Strafkammer gehörten, abzutrennen und vor die zuständige Strafkammer zu verweisen. Zur Begründung warf er derart mit Paragraphen um sich, dass Kappe der Kopf zu dröhnen begann, und auch die Rechtsanwälte feuerten noch einmal aus allen Rohren.
Das Gericht zog sich nun zur Beratung zurück. Inzwischen wurde die Angeklagte Reinhardt, der unwohl geworden war, wieder in den Saal geführt und ans Fenster gesetzt. Kappe erinnerte sich, dass man sie in der Zeitung «die Petroleuse» nannte, weil sie es gewesen sein sollte, die einem Polizeileutnant eine brennende Petroleumlampe ins Gesicht geschleudert hatte. Nun führte man die Angeklagten zum Mittagessen ab.
Nach der Pause verkündete Landgerichtsdirektor Lieber, dass die 3. Strafkammer nach dem Geschäftsplan sehr wohl die Verhandlung übernehmen dürfe. Daraufhin stellte der Rechtsanwalt Heine den Antrag, die amtierenden Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Von seiner Begründung verstand Kappe so wenig, als hätte der Mann chinesisch gesprochen. Er schaltete völlig ab und verfiel in eine Art Dämmerzustand. So verpasste er es beinahe, wie Landgerichtsdirektor Lieber erklärte, dass der Gerichtshof für heute jede weitere Verhandlung ablehne.
«Die Sitzung wird auf morgen, Donnerstag, 9.30 Uhr vertagt.»
Als Kappe sich langsam zum Ausgang bewegte, wurde er vom einem Journalisten des Berliner Lokal-Anzeigers überholt und als Kriminaler erkannt.
«Ah, Sie sind doch. .. Moment. .. der Kappe mit der verkohlten Leiche.»
«So ist es.»
«Was gibt es denn Neues im Mordfall Kohlenplatz?»
Kappe war von dieser Frage nicht eben begeistert. «Eigentlich nichts. Gustav Dlugy bleibt dabei, den Mord an Paul Tilkowski nicht begangen zu haben, und das Milchmädchen Frieda Grienerick schwört Stein und Bein, wirklich gesehen zu haben, wie Kockanz den Tilkowski erschossen hat. Und Kockanz selber ist seit dem 11. Oktober spurlos verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Was als Tateingeständnis zu werten ist. Aber solange wir ihn nicht haben. .. Und da habe ich jede Hoffnung fahren lassen.»
«Sie hatten sich Ihren ersten Fall als Berliner Kriminaler sicher anders vorgestellt?»
«Und ob.» Fast wäre Kappe das herausgerutscht, was Galgenberg in solchen Fällen immer sagte: Da können Sie getrost einen drauf lassen.
ACHTZEHN
Sonntag, 20. November 1910
HERMANN KAPPE saß mit zwei seiner drei Geschwister im Zug. Sie hatten sich verabredet, vom Görlitzer Bahnhof gemeinsam zum 47. Geburtstag ihres Vaters nach Wendisch Rietz zu fahren. Es ging sehr kurzweilig zu.
Oskar, der als Feldwebel beim 1. Garde-Dragoner-Regiment in der Belle-Alliance-Straße diente, schwärmte von der Eröffnung des Sportpalastes in der Potsdamer Straße. «Letzten Donnerstag. .. Ich hatte eine Karte, weil mein bester Freund beim Trommel-Korps des Leibgarde-Husaren-Regiments ist und die da mitgemacht haben. Ich kann euch
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