Es ist nicht alles Gold...
Ein
typischer Mandant vertrat liberale Ansichten, trug sich mit dem Gedanken eines
»alternativen« Lebens und würde sich niemals etwas Schlimmeres zuschulden
kommen lassen, als eine Marihuanapflanze im Blumenkasten zu züchten. »Sharon«,
sagte Charlie eindringlich, »die Händler hier brauchen jemand, der ihre
Interessen vertritt, Joanies Interessen. Den Bullen sind wir doch schnurz.«
Wieder sah ich Hank an.
»Das kommt auf Hank an, Charlie«,
antwortete ich. »Ich bin in der Kooperative nur die Rechercheurin. Die anderen
Anwälte brauchen mich auch. Ich muß Beweismaterial sichern, mit Zeugen sprechen
— ich kann nicht einfach alles stehen- und liegenlassen.«
Hank kratzte sich, wie immer, wenn er
unruhig war, am Kopf.
»Joan Albritton war eine Mandantin wie
alle anderen Mitglieder der Kooperative. Ich denke, man könnte die Ansicht
vertreten, daß unsere Verpflichtung ihr gegenüber über ihren Tod hinausreicht.«
Er zögerte einen Moment, und ein spitzbübisches Blitzen zeigte sich in seinen
Augen. »Warum eigentlich nicht? Recherchiere ruhig, Sharon. Ehe du zu uns
kamst, mußten wir alle unsere eigenen Recherchen machen. Bringt meine faulen Kollegen
vielleicht ein bißchen auf Trab, wenn sie mal wieder nur auf sich selbst
gestellt sind.«
Ich merkte, daß sich etwas wie
Jagdfieber in mir regte. Mordfälle gab es nicht alle Tage, und hinzu kam, daß
ich mich in diesem Fall persönlich angesprochen fühlte. Ich hatte Joan
Albritton zwar nicht sehr lange gekannt, aber sie hatte zu den Menschen gehört,
die einen mit ihrer Herzlichkeit rasch für sich gewannen. Ihr Tod hatte mich
tiefer getroffen, als ich mir anmerken ließ.
»Okay«, sagte ich, »wenn es dir recht
ist, dann werde ich versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen.«
»Sie haben aber vorher auch nichts
rausgekriegt.«
Charlies plötzlicher Umschwung
überraschte mich, aber die Anklage tat nicht weh. Sie traf ja zu. Ich hatte
tatsächlich nichts von Wert herausbekommen.
»Das stimmt. Aber die Belästigungen
hörten immerhin auf.«
»Ja. Bis heute abend.«
Ich nickte. Auch das konnte ich nicht
bestreiten.
Hank räusperte sich. »Sie müssen fair
sein, Charlie. Sharon hatte den Kreis schon zusammengezogen, aber sie kam nicht
an die Beweise heran. Und ohne Beweise — «
»Ach, zum Teufel mit euren Beweisen.
Joanie hilft das jetzt auch nichts mehr.« Charlie fuhr sich mit den Fingern
durch das zerraufte Haar. »Ich geh rüber, die Tür steht halb offen, und da
liegt sie — vollkommen still. Ich ruf ihren Namen, fühl ihren Puls. Nichts.
Blut auf dem Teppich. Ach, Joanie! Und Sie reden von Beweisen.«
»War die Glasvitrine offen?« fragte
ich.
»Ja. Die war schon — ich denke, die war
offen, seit sie mit der Inventur angefangen hatte. Sie mußte ja jedes einzelne
Stück aufnehmen.«
»Ja, vermutlich. Fiel Ihnen auf, daß
eines der Messer fehlte?«
»Genau. Das sind gräßliche Messer, so
scharf und spitz...« Er geriet ins Stocken und verstummte.
»Ist Ihnen sonst etwas Ungewöhnliches
aufgefallen? Stand vielleicht etwas nicht am richtigen Platz? Oder fehlte
etwas?«
»Ob mir was Ungewöhnliches aufgefallen
ist?« Er schrie mir seinen Schmerz ins Gesicht. »Wo Joanie da tot auf dem Boden
lag? Ist Ihnen das nicht ungewöhnlich genug? Wenn Sie diesem zerstörerischen
Gesindel das Handwerk gelegt hätten, wäre Joanie jetzt nicht tot.«
Ich erkannte, wie sinnlos ihm meine
Frage erscheinen mußte, und wünschte, ich wäre etwas taktvoller gewesen.
»Charlie«, sagte Hank, »Sie wissen genau, daß es nicht Sharons Schuld ist.«
»Nein, Hank, laß nur, er hat
wahrscheinlich recht.« Ich lenkte das Gespräch wieder auf die ursprüngliche
Bahn. »Aber wir können unsere Zeit mit gegenseitigen Vorwürfen verschwenden,
ohne daß es uns dem Mörder näherbringt. Soll ich versuchen, ihn zu finden,
Charlie? Ja oder nein?«
Die nüchternen Worte wirkten beruhigend
auf ihn.
»Ich denke, als Vorsitzender der
Händlergenossenschaft habe ich die Vollmacht, Sie zu engagieren. Wir werden
darüber selbstverständlich noch in aller Form abstimmen, aber die anderen
schließen sich immer mir an.« Mit einem schiefen Grinsen fügte er hinzu: »Das
gehört zur Tradition der Händlergenossenschaft — man schließt sich immer der
Auffassung des Präsidenten an. Sonst müßten ja die Mitglieder selber was
arbeiten.«
Wieder einmal, wie fast immer, wenn ich
mich mit Charlie unterhielt, fiel mir auf, daß er sich nicht wie ein alter
Trödler ausdrückte.
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