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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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gelernt, ein paar Schläge mit dem Geschirrtuch waren ausreichend gewesen. Vor dem Dunkelwerden zu Hause sein. Jawohl, Mama.
    Er ging über das Feld auf die riesigen Ruinen in der Mitte des Geländes zu. Er wusste natürlich, dass das die Überreste der Kitchener-Eisenhütte waren – vorübergefahren war er hier schon öfter, aber es war ihm nie eingefallen, die Ruinen zu erforschen, und seines Wissens nach hatte auch keiner seiner Schulkameraden das je getan. Während er sich jetzt bückte und einen kleinen Ziegelsteinhaufen betrachtete, glaubte er auch zu verstehen, warum. Das Gelände wurde von der Frühlingssonne in strahlendes Licht getaucht (gelegentlich schob sich eine Wolke vor die Sonne und schickte langsam wandernde Schatten über das Feld), und trotzdem hatte es etwas Unheimliches an sich – hier herrschte ein brütendes Schweigen, das nur von gelegentlichen Windstößen unterbrochen wurde. Mike fühlte sich wie ein Entdecker, der soeben die letzten Reste einer märchenhaften untergegangenen Stadt gefunden hatte.
    Rechts vor sich sah er ein massives zylinderförmiges Ziegelgebilde aus dem hohen Gras herausragen. Er rannte hin und stellte fest, dass es der umgekippte Hauptschornstein der Eisenhütte war. Mike spähte hinein, und unwillkürlich lief ihm ein Schauder über den Rücken. Der Durchmesser des Schornsteins war so groß, dass er ihn ohne Weiteres hätte betreten können, wenn er gewollt hätte. Dazu verspürte er aber nicht die geringste Lust – wer konnte schon wissen, was für ein Glibber sich an den rauchgeschwärzten Ziegeln befand, und ob da drinnen nicht irgendwelche grässlichen Insekten oder unheimliche Tiere hausten. Während er noch so dastand und mit großen, etwas ängstlichen Augen hineinspähte, pfiff der Wind durch die Öffnungen des Schornsteins und erzeugte ein Geräusch, das genauso unheimlich war wie das der vibrierenden Wachsschnüre in den »Vogelschreck«-Konservendosen. Mike wich nervös ein paar Schritte zurück; plötzlich war ihm der Film eingefallen, den er mit seinem Vater am Vorabend im Fernsehen angeschaut hatte. Er trug den Titel Rodan, und sie hatten einen Riesenspaß daran gehabt; sein Vater hatte jedes Mal, wenn Rodan aufgetaucht war, lachend gerufen: »Knall den Vogel ab, Mikey!« Und Mike hatte mit dem Finger geschossen, bis seine Mutter die Tür einen Spaltbreit geöffnet und ihnen gesagt hatte, sie sollten nicht einen solchen Lärm machen, sie bekäme sonst noch Kopfweh.
    In der Erinnerung kam der Film Mike jetzt nicht mehr so komisch vor. Rodan war von japanischen Kohlenbergwerksarbeitern, die den tiefsten Schacht der Welt gruben, aus dem Erdinneren befreit worden. Und wenn man in das gähnende schwarze Rohr hineinblickte, konnte man sich nur allzu leicht vorstellen, dass am anderen Ende jener Riesenvogel hockte, die lederartigen Fledermausflügel auf dem Rücken gefaltet, und mit seinen goldumrandeten Augen auf das kleine, runde, in die Dunkelheit blickende Kindergesicht starrte, starrte, starrte …
    Zitternd wich Mike zurück.
    Um die unheimliche Öffnung nicht mehr sehen zu müssen, lief Mike ein Stückchen am Schornstein entlang, der etwa zur Hälfte in die Erde eingesunken war. Der Boden stieg hier leicht an, und plötzlich kam ihm der Einfall, auf das Rohr hinaufzuklettern, dessen Ziegeloberfläche warm von der Sonne und überhaupt nicht beängstigend war. Mit ausgestreckten Armen balancierte er darauf (der Schornstein hatte zwar einen so großen Umfang, dass keinerlei Gefahr bestand abzustürzen, aber Mike stellte sich vor, er wäre ein Seiltänzer im Zirkus) und genoss den Wind, der ihm durch die Haare strich.
    Am anderen Ende angelangt, sprang er hinab und begann sich gründlich umzusehen. Hier lag allerhand Zeug herum: Ziegel, deformierte Gussformen, Holzstücke, rostige Maschinenteile. Bring ein Andenken mit, hatte sein Vater ihm aufgetragen; er musste etwas wirklich Gutes finden.
    Er schlenderte immer näher an das gähnende Kellerloch der Eisenhütte heran, während er die Überreste betrachtete, sorgfältig darauf bedacht, sich nicht an den Glasscherben zu schneiden, von denen es hier jede Menge gab.
    Mike hatte die Warnung seines Vaters, vom Kellerloch wegzubleiben, durchaus nicht vergessen; ebenso wenig hatte er vergessen, dass vor gut fünfzig Jahren der Tod an dieser Stelle schrecklich gewütet hatte. Wenn es in Derry einen Ort gab, an dem es spukte, dann hier. Aber trotzdem – oder gerade deshalb – war er fest entschlossen, so lange

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