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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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und es spielte nicht einmal mehr eine Rolle, dass seine Stimme nicht seine eigene war, sondern die eines Jungen.
    Dann, als sie sich dem Mond-Ballon näherten, sah er sich um und sah seine Gefährten zum ersten Mal. Beide waren tot. Einer hatte keinen Kopf mehr. Das Gesicht des anderen war aufgeschlitzt, wie von einer riesigen Kralle.
    »Wir gehen so schnell wir nur können, Henry«, sagte der Junge mit dem aufgeschlitzten Gesicht. Seine Lippen bewegten sich in zwei Teilstücken, groteskerweise nicht einmal synchron, und in diesem Augenblick begann Tom zu schreien, sodass der Traum zerfiel, und er kam wieder zu sich und stellte fest, dass er dicht am Rande eines – wie ihm schien – riesigen leeren Raums torkelte.
    Er versuchte das Gleichgewicht zu halten, verlor es und fiel hin. Auf dem Boden lag ein Teppich, dennoch bereitete der Sturz ihm rasende Schmerzen in seinem verletzten Knie, und er unterdrückte einen weiteren Schrei, indem er sich den Unterarm vor den Mund presste.
    Wo bin ich? Wo zum Teufel bin ich nur?
    Er nahm ein schwaches, aber klares weißes Licht wahr, und einen schrecklichen Moment lang glaubte er, wieder in dem Traum zu sein, das Licht von einem dieser verrückten Ballons zu sehen. Dann fiel ihm ein, dass er die Badtür einen Spalt weit offen gelassen hatte und dass die Neonröhre dort noch brannte. Das machte er immer so, wenn er an einem fremden Ort übernachtete, um sich nicht die Schienbeine anzuschlagen, wenn er nachts pinkeln musste.
    Das brachte ihn endgültig in die Realität zurück. Es war ein Traum gewesen, nur ein verrückter Traum, weiter nichts. Er befand sich in einem Holiday Inn. Dies war Derry in Maine. Er war seiner Frau hierher gefolgt und mitten in einem verrückten Albtraum aus dem Bett gefallen. Das war alles. Das war kurz gesagt alles.
    Das war nicht nur ein Albtraum.
    Er zuckte zusammen, so als wäre die Stimme, die diese Wörter gesprochen hatte, dicht neben seinem Ohr gewesen, und nicht in seinem Kopf. Sie hatte gar nicht wie seine eigene innere Stimme geklungen – sie war kalt, fremd … aber irgendwie hypnotisch und glaubwürdig.
    Er richtete sich langsam auf, griff nach einem Glas Wasser, das auf dem Nachttisch stand, und trank es aus. Er fuhr sich mit zitternden Händen durch die Haare. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte zehn Minuten nach drei.
    Schlaf weiter. Warte bis zum Morgen.
    Jene fremde Stimme antwortete: Aber am Morgen werden Leute in der Nähe sein – zu viele Leute. Und außerdem kannst du diesmal vor ihnen dort unten sein. Diesmal kannst du als Erster unten sein.
    Dort unten? Er dachte an seinen Traum: das Wasser, die tropfende Dunkelheit.
    Das Licht schien plötzlich heller zu sein. Er drehte den Kopf, wollte es nicht, konnte aber nichts dagegen tun. Ein Stöhnen entfuhr seinem Mund. Am Knauf der Badezimmertür war ein Ballon festgebunden. Er flog am Ende einer etwa einen Meter langen Schnur. Ein gespenstisch weißes Licht schimmerte in seinem Inneren; er sah aus wie ein Irrlicht, das in einem Moor verträumt zwischen Bäumen umherfliegt, die mit dichtem grauem Moos überwachsen sind. Auf die Ballonhaut war ein Pfeil aufgedruckt, ein blutroter Pfeil.
    Der Pfeil deutete auf die Tür zum Korridor.
    Es spielt eigentlich keine Rolle, wer ich bin, sagte die Stimme beruhigend, und Tom begriff jetzt, dass sie weder aus seinem eigenen Kopf kam noch neben seinem Ohr war; sie kam von dem Ballon her, aus der Mitte dieses seltsamen, lieblichen weißen Lichts. Das Einzige, was eine Rolle spielt, ist, dass ich dafür sorgen werde, dass alles sich zu deiner Zufriedenheit entwickelt, Tom. Ich will sehen, wie sie eine Tracht Prügel bekommt; ich will sehen, wie sie alle eine Tracht Prügel bekommen. Sie haben meinen Weg einmal zu oft gekreuzt … und viel zu spät für sie. Also hör mir jetzt zu, Tom. Hör mir aufmerksam zu … Jetzt alle zusammen … folge dem hüpfenden Ballon …
    Tom hörte zu. Die Stimme aus dem Ballon erklärte.
    Sie erklärte ihm alles.
    Als sie damit fertig war, platzte der Ballon mit einem letzten Lichtblitz und Tom begann sich anzuziehen.

2
     
    Audra
     
    Auch Audra hatte Albträume.
    Sie fuhr aus dem Schlaf hoch und saß aufrecht im Bett, die Decke um die Hüfte gewickelt. Ihre kleinen Brüste hoben und senkten sich mit ihrem schnellen, keuchenden Atem.
    Wie Toms Traum war auch der ihrige ein wirres, qualvolles Erlebnis gewesen. Wie Tom hatte auch sie das Gefühl gehabt, jemand anders zu sein – oder vielmehr, ihr eigenes Bewusstsein in

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