Es: Roman
Adressbuch verblassen. Farbintensität und Qualität der Tinte lassen diese Eintragungen fünfzig oder fünfundsiebzig Jahre älter erscheinen als alle anderen Einträge. Es geschah während der letzten vier oder fünf Tage, und ich bin überzeugt davon, dass ihre Namen spätestens im September ganz verschwunden sein werden.
Ich vermute, ich könnte sie konservieren; ich könnte sie schlicht immer wieder abschreiben. Aber in gleichem Maße bin ich überzeugt davon, dass sie jedes Mal von Neuem verblassen würden, und dass es schon nach kurzer Zeit ein völlig sinnloses Unterfangen wäre – so als müsste man als Strafarbeit fünfhundertmal schreiben: Ich darf im Klassenzimmer nicht mit Papierbällen werfen. Ich würde Namen abschreiben, die mir überhaupt nichts sagen, aus einem Grund, an den ich mich nicht erinnern könnte.
Lass es sein, Mikey, lass es sein.
Bill, handle rasch … aber sei vorsichtig!
9. Juni 1985
Bin mitten in der Nacht von einem schrecklichen Albtraum aufgewacht, an den ich mich nicht mehr erinnern konnte; geriet in Panik, bekam keine Luft. Streckte meine Hand nach der Klingel aus, drückte sie dann aber doch nicht. Hatte eine schreckliche Vision von Mark Lamonica, der auf mein Klingeln hin auftauchen würde … oder Henry Bowers mit seinem Messer.
Ich griff nach meinem Adressbuch und rief Ben Hanscom in Nebraska an … die Adresse und Telefonnummer sind noch mehr verblasst, aber gerade noch lesbar. Hatte jedoch keinen Erfolg. Eine Stimme vom Band teilte mir mit, unter dieser Telefonnummer gäbe es keinen Anschluss mehr.
War Ben fett, oder hatte er so etwas Ähnliches wie einen Klumpfuß?
Lag bis zur Morgendämmerung wach.
10. Juni 1985
Die Ärzte sagen, ich könne morgen entlassen werden.
Ich rief Bill an und erzählte es ihm – vermutlich wollte ich ihn warnen, dass die Zeit, die ihm noch zum Handeln bleibt, immer knapper wird.
Bill ist der Einzige von ihnen, an den ich mich noch deutlich erinnern kann, und ich bin überzeugt davon, dass ich der Einzige bin, an den er sich noch deutlich erinnern kann. Vermutlich, weil wir beide noch in Derry sind.
»In Ordnung, Mike«, sagte er. »Gut. Wir werden deine B-B-Bude räumen.«
»Und deine Idee?«
»Ja. Sieht so aus, als wäre die Zeit gekommen, es zu versuchen.«
»Sei vorsichtig.«
Er lachte und sagte etwas, was ich verstehe – und doch auch wieder nicht: »A-A-Auf einem Sk-Sk-Skateboard kann man nicht vorsichtig sein, Mann.«
»Wie werde ich erfahren, wie es ausgegangen ist, Bill?«
»Du wirst es einfach wissen«, sagte er und legte den Hörer auf.
Mein Herz ist bei dir, Bill, ganz egal, wie es ausgehen wird. Mein Herz ist bei ihnen allen, und ich glaube, selbst wenn wir einander vergessen, so werden wir uns doch in unseren Träumen erinnern.
Dieses Tagebuch dürfte jetzt fast abgeschlossen sein – und ich vermute, dass es niemals etwas anderes als ein Tagebuch sein wird und die Geschichte von Derrys alten Skandalen und sonderbaren Ereignissen außerhalb dieser Seiten keinen Platz hat. Das ist okay für mich; ich glaube, dass, wenn ich morgen entlassen werde, die Zeit gekommen sein dürfte, um über ein neues Leben nachzudenken … nur wie genau ein solches neues Leben aussehen könnte, das ist mir noch nicht klar.
Wisst ihr, meine Freunde, ich habe euch geliebt.
Ich habe euch so sehr geliebt.
Epilog
Bill Denbrough schlägt den Teufel – II
»I knew the bride when she used to do the Pony,
I knew the bride when she used to do the Stroll.
I knew the bride when she used to wanna party,
I knew the bride when she used to rock and roll.«
NICK LOWE
»Auf einem Skateboard kann man
nicht vorsichtig sein, Mann.«
IRGENDEIN KIND
1
Mittags an einem Sommertag.
Bill stand nackt in Mike Hanlons Schlafzimmer und betrachtete seinen abgemagerten Körper im Spiegel an der Tür. Sein kahler Schädel schimmerte im hellen Licht, das durch das Fenster einfiel und seinen Schatten an die Wand warf. Seine Brust war unbehaart, seine Schenkel mager, doch muskulös. Aber, so dachte er, es ist ohne jeden Zweifel der Körper eines Erwachsenen. Da ist das Bäuchlein, das von zu viel guten Steaks kommt, von zu viel Flaschen Kirin-Bier, von zu viel Gartenpartys mit Reuben-Sandwiches mit doppelt Käse und French-Dressing statt fettarmer Kost. Auch dein Hintern ist nicht mehr ganz so straff wie früher, Bill, alter Junge. Du schlägst beim Tennis immer noch Asse, wenn du nicht gerade einen Kater hast und dir
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