Es stirbt in mir
und einem Schopf kastanienbrauner Haare. Auch sie hat ein Buch mitgebracht – eine Taschenbuchausgabe von Ulysses; ich kenne den Umschlag –, aber es liegt unbeachtet in ihrem Schoß. Interessiert sie sich für mich? Ich weiß es nicht, weil ich ihre Gedanken nicht lese, denn als ich den Zug bestieg, habe ich die Aufnahme automatisch auf ein Minimum begrenzt, einen Trick, den ich bereits als Kind gelernt habe. Wenn ich mich nicht gegen den Ansturm der Menschengeräusche in Zügen oder anderen geschlossenen öffentlichen Räumen schütze, kann ich mich überhaupt nicht konzentrieren. Ohne ihre Signale aufzunehmen, versuche ich zu erraten, was sie von mir denkt – ein Spiel, dem ich mich häufig widme. Wie intelligent er aussieht… Er muß viel gelitten haben, sein Gesicht wirkt soviel älter als sein Körper… Seine Augen sind sanft… sie blicken traurig… Ein Dichter oder ein Gelehrter… Ich möchte wetten, daß er leidenschaftlich ist… daß er all seine aufgestaute Liebe in den Geschlechtsakt legt, ins Bumsen… Was liest er da? Beckett? Ja, er muß ein Dichter sein, ein Schriftsteller… Vielleicht sogar ein berühmter… Aber ich darf nicht aggressiv sein. Aufdringlichkeit stößt ihn bestimmt ab. Ein scheues Lächeln, das macht ihn weich… Und eines führt dann bestimmt zum anderen… Ich werde ihn zum Lunch in meine Wohnung einladen… Um dann zu prüfen, ob meine Intuition ins Schwarze getroffen hatte, schalte ich mich in ihre Gedanken ein. Zuerst empfange ich überhaupt kein Signal. Wieder einmal läßt mich meine verdammte Gabe im Stich! Dann aber kommt es langsam – zuerst Wellensalat von den kaum ausgeprägten Überlegungen der anderen Passagiere ringsum, und dann die klare, liebliche Stimme ihrer Seele. Sie denkt an den Karate-Unterricht, an dem sie gegen Mittag in der 96th Street teilnehmen will. Sie ist in ihren Trainer verliebt, einen stämmigen, pockennarbigen Japaner. Heute abend wird sie sich mit ihm treffen. Im Hintergrund ihrer Gedanken die Erinnerung an den Geschmack von Sake und das Bild seines nackten, kraftvollen Körpers, der sich auf sie senkt. An mich denkt sie überhaupt nicht. Ich gehöre lediglich zur Szenerie – genau wie die graphische Darstellung des Subway-Systems an der Wand über meinem Kopf. Selig, deine Egozentrik bringt dich noch mal um! Ich stelle fest, daß sie jetzt tatsächlich versonnen lächelt, aber das Lächeln gilt nicht mir, und als sie merkt, daß ich sie anstarre, verschwindet es.
Der Zug hält endlos lange in einem Tunnel zwischen zwei Stationen nördlich der 137th Street, dann setzt er sich endlich wieder in Bewegung und entläßt mich an der 116th Street, Columbia University. Ich steige die Treppe hinauf, dem Sonnenlicht entgegen. Zum erstenmal bin ich diese Treppe vor einem vollen Vierteljahrhundert hinaufgestiegen, im Oktober 1951: ein etwas verängstigter High-School-Absolvent mit Akne und Bürstenschnitt, der von Brooklyn herunterkam, um sich ins College einzuschreiben und für die Aufnahme interviewen zu lassen. Unter den strahlenden Lichtern der University Hall. Der Interviewer einschüchternd würdevoll und reif – er muß ungefähr 24, 25 Jahre alt gewesen sein. Ich wurde trotzdem aufgenommen. Und von da an war dies tagtäglich meine Subwaystation, vom September 1952 an, bis ich endlich mein Zuhause verließ und in der Nähe des Campus eine Wohnung fand. In jenen Tagen war der Subway-Eingang über der Straße noch durch einen alten, gußeisernen Kiosk markiert, der auf dem Mittelstreifen zwischen den beiden Fahrbahnen stand, so daß Studenten, geistesabwesend und den Kopf voller Kierkegaard, Sophokles und Fitzgerald, immer wieder vor Autos liefen und überfahren wurden. Heute ist der Kiosk verschwunden, und die Subway-Eingänge haben einen vernünftigeren Platz auf den Gehsteigen gefunden.
Ich ging die 116th Street entlang. Zu meiner Rechten die weite Grünfläche des South Field, zu meiner Linken die flachen Stufen, die zur Low Memorial Library hinaufführen. Ich erinnere mich noch an die Zeiten, als das South Field ein Sportplatz mitten auf dem Campus war: braune Erde, Laufpfade, ein Zaun. In meinem ersten Collegejahr spielte ich dort immer Softball. Unsere Umkleideräume waren in der University Hall, und so sprinteten wir dann in Turnschuhen, Polohemden, schmuddeligen grauen Shorts inmitten der anderen Studenten in ihren Straßenanzügen oder den Reserveoffiziersuniformen die endlosen Stufen zum Southfield hinunter, wo wir uns eine Stunde
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