Magische Insel
I
W ährend ich in Wandernicht aufwuchs, fragte ich mich oft, warum mir alles so langweilig vorkam. Damit will ich nicht sagen, dass ich nicht das in vollkommenster Weise hergestellte Brot zu schätzen wusste, das mein Vater oder Tante Elisabet regelmäßig buken. Und mit Sicherheit habe ich mich über die kunstvoll geschnitzten Spielsachen und andere Geschenke gefreut, die Onkel Sardit an meinem Geburtstag oder hohen Feiertagen hervorzauberte.
Vollkommenheit hat jedoch auch ihren Preis, vor allem für einen Jugendlichen, der sie von fröhlichnüchternen Erwachsenen lernt. Mein Preis war die Langeweile – keineswegs ungewöhnlich für einen jungen Mann in der Hälfte des zweiten Lebensjahrzehnts. Doch Langeweile führt zu Ärger, selbst wenn die Dinge angelegt sind, so vollkommen wie möglich zu sein. Selbstverständlich hatte dieses Streben nach Vollkommenheit, das kennzeichnend für die Insel war – manche würden Recluce eher als kleinen Kontinent bezeichnen –, einen guten Grund. Doch dieser gute Grund leuchtete einem ruhelosen jungen Mann keineswegs ein.
»Vollkommenheit, Lerris«, erklärte mein Vater immer wieder, »ist der Preis, den wir für ein gutes Leben bezahlen. Vollkommenheit hält die Zerstörung fern und bietet den Guten einen sicheren Hafen.«
»Aber warum? Und wie?« lauteten stets meine Fragen.
Schließlich mischte sich auch meine Mutter in die Diskussion ein. Das war kurz nachdem ich die vorgeschriebene schulische Mindestausbildung abgeschlossen hatte – mit fünfzehn Jahren.
»Lerris, es gibt im Leben und in der Natur zwei fundamentale Kräfte: Schöpfung und Zerstörung. Schöpfung ist Ordnung. Wir bemühen uns, diese zu wahren und …«
»Du klingst wie Magister Kerwin: ›Ordnung vermag als einziges das Chaos zu bändigen … Weil das Böse und das Chaos so eng miteinander verknüpft sind, muss man jegliche zerstörerische Handlung vermeiden …‹ Ich weiß, dass Vollkommenheit wichtig ist, Mutter. Ich weiß es. Ich weiß es. Ich weiß es wirklich! Aber warum muss Vollkommenheit so verflixt langweilig sein?«
Meine Mutter zuckte mit den Achseln. »Ordnung ist nicht langweilig. Sie langweilt nur dich.« Sie blickte meinen Vater an. »Offensichtlich langweilst du dich mit uns. Wie gefiele es dir, ein Jahr oder länger bei deinem Onkel Sardit das Schreinerhandwerk zu erlernen, da du noch nicht ganz soweit bist, in die Gefahrenbrigade einzutreten?«
»Meinst du wirklich, Donara?« fragte mein Vater. Offenbar war er nicht begeistert, dass Mutter den Mann seiner Schwester vorschlug.
»Ich habe bereits mit Sardit darüber gesprochen, Gunnar. Er ist willig, die Herausforderung anzunehmen.«
»Herausforderung?« fragte ich empört. »Was heißt Herausforderung? Ich kann alles lernen, was …«
»Ja, für drei Wochen«, unterbrach mich mein Vater.
»Es ist nicht so, dass du die harte Lehre bis zum Meister der Schreinerkunst durchhalten musst, Lerris«, fügte meine Mutter hinzu. »Aber die allgemeine Kenntnis des Handwerks und die Disziplin werden dir zustatten kommen, wenn du als Gefahrenbrigadier unterwegs bist.«
»Ich? Warum sollte ich durch wilde Länder stampfen?«
»Du wirst.«
»Ganz gewiss.«
Doch das einzig Gewisse war die Tatsache, dass ich lernen sollte, wie man die Wandschirme, Tische, Stühle und Schränke schreinerte, die Onkel Sardit anfertigte. Ich wusste, dass manchmal Leute aus Candar kamen – ja sogar aus den Handelsstädten Austras –, um einen seiner Wandschirme oder Intarsientische zu kaufen.
Bis ich eine klarere Vorstellung davon hatte, was ich wirklich im Leben tun wollte, war die Arbeit mit Holz besser, als meinem Vater zu helfen, das Mauerwerk fleckenlos zu halten, Ton zu mischen oder mich um den Brennofen meiner Mutter zu kümmern. Obgleich dieselben Händler, die Sardit besuchten, auch bei der Töpferei meiner Mutter vorbeikamen, hatte ich für das Töpfern keinerlei Begabung. Außerdem langweilten mich Töpfe und Vasen samt der Kunst des Bemalens und des Glasierens.
Ich verließ also wenige Tage später das ordentliche Haus aus Stein und Holzbalken, in dem ich aufgewachsen war, nachdem ich zum letzten Mal durch die bläulich getönten Scheiben des Flügelfensters meines Schlafzimmers auf den Kräutergarten hinausgeschaut hatte. Danach war ich beinahe mit leeren Händen einen halben Tag lang zu meinem Onkel marschiert, wo ich in einer der Lehrlingskammern über der Werkstatt untergebracht wurde. Onkel Sardits zweiter Lehrling Koldar hatte
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