Es wird Dich rufen (German Edition)
verächtliches Blitzen und in seinem Gesicht ein dämonisches Grinsen zu erblicken, wie sie es von ihm nicht kannte. Im gleichen Augenblick verwarf sie diesen Gedanken allerdings wieder. Genauso gut könnte das schwache Licht der Lampe diesen Eindruck erweckt haben, das Saunières älter gewordenes Gesicht in einem ungünstigen Winkel traf.
»Sie haben recht, oder?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Saunière emotionslos und ging, ohne eine einzige Sekunde auf Maries starre Miene zu achten, zum Bücherregal am gegenüberliegenden Ende des Raumes. Dort kramte er ein dünnes Heftchen mit braunem Einband hervor, das er mit an den Schreibtisch nahm.
»Ja, sie haben recht«, sagte er, den Kopf über das Buch gesenkt. Marie hatte zwar mit dieser Antwort gerechnet, fühlte sich aber trotzdem durch sie verletzt. Allein der unerklärlichen Kraft des kleinen Medaillons war es wohl zu verdanken, dass sie nicht augenblicklich in sich zusammenbrach. Erneut sorgte es auf unerklärliche Weise dafür, dass sie gefasst auf die unterkühlten Worte des Abbés reagierte.
»Aber warum?«, fragte sie ihn.
»Die ›Bewahrer des Lichts‹«, fauchte Saunière, »sind ein Nichts im Vergleich zu dem, was Luzifers Anhänger in dieser Welt bewirken können! Sieh mich an: Die Zukunft hat sich mir offenbart. Die Offenbarung des Johannes wird sich bald erfüllen, Marie. Wenn die tausend Jahre vorüber sind, dann wird der Satan aus seinem Gefängnis freigelassen. Die Zeit ist abgelaufen – und ich wurde mit der Macht ausgestattet, alles Wichtige vorzubereiten. Ich allein!«
»Aber – wieso du? Du warst doch ausersehen, den Schrein zu schützen. Wie konntest du dich nur so sehr gegen das Schicksal stemmen, das dir zugedacht war?«
»Was denkst du eigentlich, du arme, ahnungslose Marie, wer auf Erden die wahre Macht hat? Wer wirklich regiert und das Schicksal der Menschen in den Händen hält? Der Teufel ist bereits auf Erden angekommen und er wird schon bald die Macht ergreifen – und dann wird sich zeigen, wer der Stärkere ist. Fürchte dich vor seinen Machenschaften und denke daran: Par ce signe tu le vaincras, Marie! Durch dieses Zeichen wirst du siegen! Ich kenne die Antwort. Ich kenne sie!«
»Du bist wahnsinnig!«, schrie Marie, die die wahre Absicht seiner abscheulichen Worte nicht begriff.
»Wahnsinnig?«, fuhr er sie an. Sein Gesicht war rot vor Zorn. »Ich bin nicht wahnsinnig! Ich habe die Zukunft gesehen – und ich weiß genau, was jetzt zu tun ist. Schon bald wird Luzifer mit seinen Heerscharen auf diesem Kontinent herrschen. Wie damals auf Golgatha wird er versuchen, seine Lanze gegen den Sohn Gottes zu schleudern. Und damit gegen alle, die ihm folgen!«
Marie konnte und wollte Saunières Worte nicht mehr länger ertragen. Der Priester hatte offensichtlich die Maske fallen lassen, die er so lange getragen hatte. Aus dem liebevollen Saunière, den sie einst gekannt und geschätzt hatte, war ein fratzenhaftes Abbild des Teufels geworden. Sie wollte so schnell wie möglich aus diesem unheilvollen Zimmer hinaus. Weg von einem Mann, den sie nicht mehr kannte; den sie vielleicht nie richtig gekannt hatte.
Auf direktem Weg eilte sie die Treppe hinab in ihr eigenes kleines Reich, in jenes Zimmer, das sie sich im Erdgeschoss eingerichtet hatte und das sie seit einiger Zeit bewohnte. Dort angekommen, warf sie die Türe hinter sich zu und schloss ab.
Dann ließ sie sich erschöpft auf das Bett fallen und starrte, versunken in ein wildes und unwirkliches Dickicht aus quälenden, nur schwer fassbaren Gedanken, an die Decke.
»Warum?«, fragte sie verzweifelt in die fühlbare Leere des Raumes. »Warum hast du das nur zugelassen, mein Gott?«
Erschöpft bemühte sich Marie, Trost im Schlaf zu finden.
Bevor sie jedoch in ihre Träume hinabglitt, faltete sie noch einmal die Hände und betete um ein Wunder, das Saunière retten und ihr die schlimme Aufgabe, die sie vor sich hatte, ersparen würde.
Dann fielen ihr die schwer gewordenen Augenlider zu.
Sie bekam nicht mehr mit, wie der Stein des Amuletts, das sie immer noch um ihren Hals trug, zu leuchten begann und Maries Zimmer erhellte. Doch nicht nur dieser Raum wurde von dem warmen Licht durchdrungen – innerhalb weniger Minuten breitete es sich auf das gesamte Haus aus und umgab es von allen Seiten mit einer wohltuenden, schützenden Aura.
1
Frankfurt am Main, »Komet«-Verlagsgebäude
22. Juli 1999
»Guten Morgen!«, rief der Portier gut gelaunt Mike Dornbach zu, als
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