ESCORTER (German Edition)
wirkte sie dennoch bedrückt. Doreé sah es an ihrem Gang, der noch krummer und schlurfender war als sonst, und der gerunzelten Stirn, die regelrechte Furchen in ihre Stirn trieb und ihrem Gesicht einen verbissenen Ausdruck verlieh.
Doreé kam sich ein wenig schäbig vor, doch wollte sie sich nicht länger als nötig in Ophelias Gegenwart aufhalten, solange sie sich in einer solchen Stimmung befand. Zumal sie die Sorge übertrieben fand. Mit einer gemurmelten Entschuldigung schnappte sie ihren Kaffee und flüchtete aus der Küche.
Ihr Zimmer im ersten Stock befand sich am Ende des Ganges, schräg gegenüber dem Schlafzimmer ihrer Mutter, und war ihr ganz persönlicher Gegenentwurf zum Rest des Hauses. Ein altes Metallbett, eine Kleiderstange als Schrank, ein Sekretär aus hellem Eichenholz, ein Ikea-Plastiktisch und ein roter Samtsessel bildeten ihr gesamtes Mobiliar. Statt teurer Accessoires gab es schmutziges Geschirr, leere Keks und Schokoladenpackungen, Kleider, Bücher und Videospiele, alles lag wild verstreut im Zimmer herum.
Ophelia würde das Durcheinander beseitigen, doch Doreé verweigerte es. Sie mochte das Chaos, weil ihre Mutter es hasste.
Sie schlürfte an dem Kaffee, bevor sie die Tasse auf einem der wenigen freien Plätze auf ihrem Schreibtisch abstellte, zog dann das verschwitzte T-Shirt aus und warf es auf den Kleiderberg, der den Samtsessel vollständig bedeckte. Glücklicherweise hatte sie ihr eigenes Bad, das, im Gegensatz zu ihrem Zimmer, sauber und ordentlich war. Das einzige Zugeständnis an ihre Mutter, die beim Anblick der braungelben Ränder im Abfluss, der offenen Zahnpastatube, den benutzten Ohrstäbchen und der dicken Staubschicht auf den Chromregalen ihren berüchtigten Eisblick bekommen und drei Tage lang nichts mit ihr geredet hatte. Bis Doreé sich schließlich bereit erklärte, das Bad von Ophelia reinigen zu lassen.
Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und putzte ihre Zähne, um den faden Geschmack im Mund zu vertreiben. Als sie wieder aus dem Badezimmer trat, war der Kaffee nur noch lauwarm. Sie trank ihn trotzdem, obwohl er in Verbindung mit Zahnpasta beschissen schmeckte. Anschließend streifte sie sich eine Jogginghose, T-Shirt und Laufschuhe über und fasste ihre Haare zu einem Zopf zusammen. Auf der Suche nach ihrem mp3-Player wühlte sie in dem Kleiderberg auf dem Sessel und in dem Durcheinander auf dem Schreibtisch. Nichts. Verdammt.
Dann erinnerte sie sich daran, dass sie beim Einschlafen Musik gehört hatte, hob ihr Kissen an und fand ihn auf der Matratze.
Kurz darauf betrat sie den Gehweg und rannte los, vorbei an Villen und schicken Einfamilienhäusern. An Volvos, Porsches und Mercedes-Limousinen. Obwohl sie ihr Leben hier verbracht hatte, fühlte sie sich fremd inmitten des Potsdamer Villenviertels. Wie ein Eindringling oder ein Tourist, der rein zufällig hier gelandet war und nun staunend die Häuser betrachtete, in denen zu wohnen ihm niemals vergönnt sein würde. Vielleicht lag es am Verschwinden ihres Vaters zehn Jahre zuvor, dass sie diesen Ort nicht mehr als ihre Heimat betrachten konnte. Heimat war immer dort gewesen, wo ihr Vater war. Nach dem plötzlichen Tod ihres Zwillingsbruders umso mehr.
Sie blickte zum Himmel hinauf. Gleißend hell strahlte die Morgensonne auf sie hinab, blendete ihre Augen. Der Tag versprach, heiß zu werden. Schon jetzt maß das Thermometer mindestens zwanzig Grad.
Während sie rannte, machte sich der Schlafmangel bemerkbar. Normalerweise schaffte sie die Acht-Kilometer-Runde ohne Probleme, doch das würde sie heute nicht zustandebringen, zumindest nicht an einem Stück und schon gar nicht in der üblichen Zeit. Vielleicht hätte sie den losen Stein auf dem Gehweg bemerkt, wenn sie nicht müde gewesen wäre, oder hätte es zumindest geschafft, sich auf den Beinen zu halten, nachdem sie über ihn gestolpert war. Doch sie war müde und so stieß sie ungebremst mit der Schuhspitze dagegen, strauchelte und klatschte der Länge nach hin. Ein scharfer Schmerz schoss durch ihren linken Fuß und das rechte Knie.
»Au, verdammt!« Sie rollte sich herum und setzte sich auf. Winzige Steinchen und Dreck klebten an ihrer Jogginghose.
Sie wickelte das Hosenbein hoch und betrachtete ihr Knie. Die obere Hauschicht war abgeschürft, am rechten Rand quoll Blut hervor.
Scheiße. Wütend zerrte sie die Kopfhörer aus den Ohren und stopfte sie in die Hosentasche. Dann stemmte sie sich hoch und versuchte aufzustehen. Das geschundene
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