FOOD CRASH
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1.
Vom Kleinen ins Große –
Wie uns das Hungerproblem eingeholt hat
Nichts ist so gefährlich wie ein weiches Sofa vor dem Fernseher, ein prasselndes Kaminfeuer, das
heute-journal
ist zu Ende, und jetzt mal schnell mit der Fernbedienung rumgezappt. Da stößt man auf höchst merkwürdige Sendungen. Weil die Schwerkraft stärker ist als die Vernunft, gelingt das Aufstehen nicht, und außerdem ist es gemütlich. In solchen Situationen habe ich schon die dümmsten Filme gesehen, und nur meine Frau hat etwas davon, weil sie dabei einschläft.
Eine Sendung über den Weltrekord im Wettessen hat uns aber hellwach gemacht.
Es ging irgendwie darum, dass Leute, die ohnehin schon aussehen, als wäre eine Diät gerade das Beste für sie, zeigen, was alles in sie reingeht. Ein Mensch mit unaussprechlichem russischem Namen schaffte über 3,5 Liter Mayonnaise. In acht Minuten! Das muss man sich einmal vorstellen. Ein anderer konnte Ähnliches mit Butter. Und eine Frau, die vergleichsweise normal (eigentlich sogar ganz nett) aussah, vertilgte 167 Hähnchenflügel. Ich musste immer an die 83 und ein halbes Hähnchen denken, die jetzt keine Flügel mehr hatten – und alles nur, damit Sonya aus Bottrop ins Buch der Rekorde kommt.
An dem Abend waren auch unsere Kinder da. Nicht alle sechs, aber doch genug für eine heftige Diskussion. Sie begann mit etwas, was bei uns die Regel ist: einer Art Spontantheater, in dem alle Protagonisten des Wettkampfes vorkamen, ins Groteske übersteigert und zum Brüllen komisch. Irgendjemand sagte dann: »Das ist ja unglaublich pervers!« – und erinnerte an das, was eine Woche zuvor passiert war.
Das war Anfang April 2008.
Das Getreide, das wir im Sommer 2007 geerntet hatten, war gut verkauft, und auch die Welt der konventionellen Ackerbauern um uns herum sah rosig aus. Endlich wieder anständige Getreidepreise, und auch die Kartoffeln liefen prima!
In diese Hochstimmung waren Nachrichten über Versorgungsprobleme gesickert. Na ja, Versorgungsprobleme – eher
Hunger,
um die Sache beim Namen zu nennen. Aber, was da die Filter der Nachrichtenmacher passierte, das schien doch weit weg und eine von den vielen Katastrophenmeldungen zu sein, wie sie ständig in den Nachrichten zu sehen sind. Man darf sich das nicht zu sehr zu Herzen nehmen, weil man sonst depressiv wird. Doch an diesem Abend kamen die Bilder aus einem Land, das wir gut kennen – aus Haiti. Dort haben wir gelebt, meine Frau, ich und zwei Kinder, aus denen in Port au Prince dann drei wurden.
Mit den Bildern schwappten O-Töne, Worte, Wortfetzen zu uns ins Wohnzimmer. Im Gegensatz zu vielen Millionen Menschen, die sie auch gehört haben, haben wir sie verstanden. Nichts Aufregendes! Es waren Worte wie »Nou grangou« oder »Ba’m kichoy pou’n manjé«, Dinge, die verzweifelte Menschen in eine Kamera sagen, hinter der sie jemanden vermuten, der ihnen helfen kann: »Wir haben Hunger« und »Gib uns was zu essen«. Aber für uns waren es Worte, die uns unter die Haut gingen. Plötzlich war die Distanz weg. Wir waren wieder mittendrin. Bilder kamen hoch von Familien in den armseligen Hütten in den Bergen, rund um die Ebene von Les Cayes, im Süden der Insel. Bilder von Familien, die es normal finden, dass sie nur einmal am Tag essen können, und auch das nicht immer. Bilder von Kindern mit geblähten Hungerbäuchen, über deren rote Haarfarbe wir uns immer gewundert haben, bis uns jemand erklärte, dass auch das eine Folge der Mangelernährung ist. Bilder von Vätern, die ihre Verzweiflung in Tafia, dem billigen Zuckerrohrschnaps ertränken, weil sie keine Arbeit haben und ihren Frauen erklären müssen, dass sie auch heute nichts mit heimgebracht haben, das man auf dem Markt in Essbares tauschen könnte.
Und dann dieses Kontrastprogramm, die Fressorgien bei der Weltmeisterschaft! Aus der Alberei vor dem Kamin war ein ernsthaftes Gespräch geworden. Wie hängt das zusammen: unser Leben und das der Hungernden in Haiti? Was ist zu tun, damit dieser Skandal aufhört? Was heißt das für uns als Bauern, als Konsumenten, als Staatsbürger?
Aus unserer Erfahrung in einem landwirtschaftlichen Entwicklungsprojekt der Caritas von Les Cayes, finanziert durch das deutsche Hilfswerk Misereor, hatte ich manches zur Diskussion beizusteuern. Unsere mittlerweile erwachsenen Kinder haben an diesem Abend verstanden, dass hinter den pittoresken Fotos in den immer und immer wieder von ihnen durchgeblätterten Alben mehr
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