Esel
zum ersten Mal Friedhelm.
3. Kleinzedlitz in Sichtweite
»Kommst du jetzt?«
Einen Esel anzubrüllen macht genauso wenig Sinn wie der Versuch, einen kaputten Fahrradschlauch mit einer alten Banane zu flicken. In der Kurzanleitung für Eselwanderer steht, schreien Sie Ihren Esel niemals an, reden Sie mit ihm. Einen Teufel werde ich tun.
»Komm jetzt, verdammt nochmal!«, schreie ich, so laut ich kann.
Ziehen Sie nicht unnötig am Strick, damit erreichen Sie das Gegenteil.
Ich ziehe nicht, ich werfe mich in den Strick. 79 Kilo Beamtenkörper gegen 380 Kilo Eselmasse. Man muss kein Physiker sein, um sich das Ergebnis auszurechnen.
Ich werfe mich auf den Boden. Ohne jeden Effekt. Friedhelm zeigt auch jetzt keinerlei Reaktion.
»Okay, dann bleibst du eben hier. Ist mir scheißegal. Das Experiment ist zu Ende. Ich mach’ mich doch hier nicht zum Affen.«
Doch, das tue ich. Genau in diesem Moment. Ich kapituliere vor einem Lebewesen, das nicht 13 Jahre zur Schule gegangen ist, das nicht zehn Semester studieren musste, das nicht während eines schrecklichen Referendariats so tun musste, als wäre alles ein wunderbarer Traum, der bitte nie zu Ende gehen möge.
Ich kapituliere vor Friedhelm, der genau in diesem Moment ganz langsam in Richtung Kleinzedlitz losmarschiert, während Karin jetzt wahrscheinlich gerade … Ach, Karin.
»Bleib stehen. Stehen bleiben! Hörst du? Bleib stehen, du verdammtes –«
Friedhelm beschleunigt, was mir egal wäre, wenn er nicht meinen Rucksack hätte.
»Friedhelm?«
Noch ist das Gehen, was Friedhelm da macht. Gehen kann ich auch. Also hinterher.
Er beschleunigt. 380 Kilo Esel wechseln in den Galopp. Ich nicht, wie auch.
»Friedhelm!«
Wenigstens sieht mich keiner. Aber das da hinten ist Kleinzedlitz, dort werden Menschen wohnen, auch wenn ich mir das hier nicht vorstellen kann. Und diese Menschen werden sehen, wie ich hinter einem Esel herlaufe, der seinen Abstand zu mir ständig vergrößert. Sie werden nicht wissen, was ich sonst so mache und dass ich nun eigentlich in Lucca sein müsste oder wenigstens auf dem Weg dorthin.
»Scheiße! Friedhelm!«
Ich brülle. Der Schweiß rinnt mir die Stirn herunter, mein Puls beschleunigt sich. Das Hemd verfärbt sich dunkel.
Friedhelm macht mit jeder Sekunde Meter gut. Kleinzedlitz kommt näher.
Reden Sie ruhig mit Ihrem Esel. Wer denkt sich so was aus? Menschen, die noch nie unfreiwillig hinter einem Esel hergerannt sind.
»Friedhelm!« Das Schreien fällt mir immer schwerer.
Schreien oder rennen, beides geht nicht. Ich bin kein Sportlehrer. Ich bin Autofahrer, Aufzugbenutzer, Sofajogger.
»Friedhelm?« Ein letztes leises Rufen – und das Wunder geschieht.
Er bleibt stehen. Er dreht sich nicht zu mir um, aber er bleibt stehen. Das gibt es doch nicht.
»Friedhelm?« Ich klinge schon fast zärtlich.
Und er dreht sich jetzt auch noch um.
»Brav.«
Er kommt zurück. Er kommt tatsächlich zurück.
»Brav, ja, brav. Komm. Komm zu mir.«
Ich bin nicht Studienrat Björn Keppler, ich bin Dr. Doolittle. Ich kann mit einem Esel sprechen! Blödsinn. Ich darf ihn nur nicht anschreien, steht ja auch in der Anleitung. Aber ich werde niemals zugeben, dass ich mich daran halte. Ich halte mich nur an meine eigenen Vorschriften.
Friedhelm kommt ganz langsam auf mich zu. Seine braunen Augen haben einen leichten Glanz, der sie sanft erscheinen lässt, milde, gütig. So was habe ich zuletzt gedacht, als ich unter dem Einfluss von Hermann Hesses Romanen sogar ein normales Frühstücksmüsli verklären konnte. Das ist Jahre her. Ich trage die Haare kurz und verdiene mein eigenes Geld.
Bilde ich mir das ein, oder riecht Friedhelm jetzt auch anders aus dem Maul? Das bilde ich mir ein. Er wird sich kaum die Zähne geputzt haben während seiner kurzen Flucht. Und er wird es nicht merken, dass ich nun ganz vorsichtig, ganz langsam den Strick, der auf dem Boden schleift, in die Hand nehme und dann ganz dezent zu mir …
»Friedhelm?«
Er hat es gemerkt, weiß der Teufel, wie er es gemerkt hat, aber er hat es gemerkt, und jetzt rennt er in die andere Richtung. Wir müssen nach Kleinzedlitz, und das liegt im Osten. Ich weiß, hier liegt alles im Osten, aber Kleinzedlitz liegt ganz besonders im Osten. Und dort liegt auch der weit und breit einzige Hof, der mich und Friedhelm heute aufnehmen wird. Das sagt die Anleitung. Versuchen Sie am ersten Tag unbedingt, den Reißerhof in Kleinzedlitz zu erreichen, sonst müssen Sie die Nacht im Freien
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