Eselsmilch
1
Fanni
hatte genug von Leichenfunden.
Nie
wieder würde sie sich in irgendwelche Ermittlungen, ob bei Mord, Totschlag oder
Unfall, hineinziehen lassen. Das hatte sie sich geschworen. Denn viel zu oft
schon hatte sie Sprudel und sich selbst damit in Gefahr gebracht.
Und
jetzt war Martha tot.
Martha
Stolzer, Fannis langjährige Freundin, war mitten in der Neustadt von Marrakesch –
genau genommen auf der Avenue Mohammed V – von einem Autobus
überfahren worden.
»Wie
kann das Schicksal nur so grausam zuschlagen?«, fragte Sprudel soeben.
Er
lag neben Fanni in einem jener sogenannten Kingsize-Betten, mit denen die
Zimmer des Hotel Agalan ausgestattet waren, und hielt sie in den Armen.
»Erst
ist ihr Mann auf heimtückische Weise ermordet worden, und jetzt stürzt Martha
mitten auf einer Prachtstraße Marrakeschs vor einen fahrenden Bus.«
Prachtstraße!, meldete sich
Fannis ungeliebte Gedankenstimme spöttisch. Prächtig breit ist sie
schon – verglichen mit dem Erlenweiler Ring jedenfalls. Immerhin führen
zwei Fahrspuren in Richtung Altstadt und zwei – na ja, grob gesagt nach
Casablanca. Die Avenue wird sogar von ein paar zerrupften Palmen und einer
Reihe zerfledderter Jacarandabäume gesäumt. Aber damit ist die Pracht auch
schon vorbei.
»Elke
meint, Martha muss gestolpert und unglücklich gestürzt sein«, sagte Sprudel.
Die
Leiterin der niederbayerischen Reisegruppe hatte vorhin lang mit dem Beamten
der Stadtpolizei geredet. Er hatte ihr wohl den Unfallhergang erklärt.
»Aber
worüber sollte Martha denn gestolpert sein?«, fragte Fanni und wischte sich die
Augen, die bis jetzt unaufhörlich Tränen produziert hatten.
Sprudel
streichelte ihre Halsgrube. »Manchmal stolpert man über die eigenen Füße.«
»Und
stürzt dabei auf eine etliche Meter entfernte Fahrbahn?«, mäkelte Fanni.
Sprudels
Hand hielt inne. »Fanni, niemand hat beobachtet, wie Martha vor den Bus
geriet.«
»Eben«,
sagte Fanni.
Sprudels
Hand war aus Fannis Halsbeuge gerutscht. Er drehte sich auf den Rücken, und
Fanni sah, dass sich seine Finger in die Daunen des Schlafsacks krallten.
»Nicht
hier, Fanni, nicht im Ausland, nicht in Marokko, wo wir uns kaum verständigen
können.«
Fanni
verkniff sich die Bemerkung, dass Sprudels Französisch für ein Gespräch mit dem
Taxifahrer, der sie am vergangenen Abend vom Gauklerplatz zum Hotel gebracht
hatte, offensichtlich ausreichte. Stattdessen sagte sie: »Ich könnte mich
ohrfeigen, dass ich im Hotelcafé unbedingt den Tisch in der versteckten Nische
haben wollte. Hätten wir uns zu den anderen ans Panoramafenster gesetzt, dann
hätten wir die Straße direkt vor Augen gehabt und genau gesehen, was dort vor
sich ging.«
Sprudel
richtete sich auf. »Und warum hätten ausgerechnet wir beide sehen sollen, wie
Martha gestolpert ist, wenn alle anderen es nicht mitbekommen haben?«
»Ist
das nicht seltsam?«, fragte Fanni.
Mit
einem tiefen Seufzer ließ sich Sprudel aufs Kissen zurücksinken und blieb
stumm.
Fanni
schloss die Augen und ließ zum x-ten Mal die Ereignisse des Vormittags Revue
passieren.
Gegen
neun Uhr morgens hatte sich die Reisegruppe im Foyer des Hotels versammelt, um
dort auf die Abfahrt zur Stadtbesichtigung zu warten.
Um
kurz nach neun hatte Elke Knorrs Handy geklingelt. Nachdem die Reiseleiterin
ein schnelles Gespräch auf Französisch geführt hatte, teilte sie der Gruppe
mit, dass der Touristenbus, der sie abholen sollte, unterwegs eine Panne gehabt
habe. Man würde Ersatz beschaffen, aber das könne ein wenig dauern.
»Rechnet
mal mit zwei bis drei Stunden«, hatte Hubert zu den Umstehenden gesagt. »Kennt
man hier ja.« Hubert Seeger schien alles in diesem Land zu kennen, obwohl es –
wie Fanni während der Vorstellungsrunde erfahren hatte, zu der Elke sie am
vorgestrigen Abend genötigt hatte – seine erste Reise nach Marokko war.
»Genügend
Zeit für ein ausgiebiges zweites Frühstück«, hatte Hubert hinzugefügt und war
in die Richtung geschwenkt, in der das zum Hotel gehörige Café-Restaurant lag.
Hubert hatte gut zehn Kilo Übergewicht und offenbar nicht die Absicht, abzuspecken.
Seine Frau Dora – Fanni hatte sich alle Namen bereits gemerkt –
begleitete ihn wie ein lang gezogener Schatten.
Der
Rest der Reisegruppe war noch eine Zeit lang unschlüssig herumgestanden, doch
dann war einer nach dem andern den Seegers ins Café gefolgt. Auch Fanni und
Sprudel hatten es ihnen zu guter Letzt gleichgetan – allerdings
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