Eselsmilch
Klassifizierung
dieser Gesichter vorgenommen, hatte sie in »freundlich und offen« und
»griesgrämig« unterteilt.
Melanie …
Fanni überlegte, ob sie sich auch an den Nachnamen erinnern konnte. Er hatte
mit einem Tier zu tun – Wolf? Nein, Fuchs. Melanie Fuchs mit ihren
kantigen Zügen, der Hakennase und dem stechenden Blick musste auf jeden Fall
der Kategorie »griesgrämig« zugeordnet werden. Sie schien so freudlos, so –
wie hatte Sprudel gesagt? – verhärmt.
Womöglich,
dachte Fanni, wirkt Melanie viel weicher, angenehmer, lieblicher, wenn sich
ihre Miene aufhellt. Vielleicht hilft ihr diese Reise dabei, ihren Gram zu
bewältigen. Sie ist noch so jung, gerade mal siebenunddreißig. Was ihr wohl so
zu schaffen macht? Eine Scheidung? Dass sie allein reist, könnte dafür sprechen.
Und nicht alle Trennungen laufen so unspektakulär ab wie die von Hans Rot und
mir.
»Melanie
hat etwas ganz Komisches gemacht«, sagte Sprudel und streifte seinen Pullover
über. Fanni wartete geduldig, bis sein Kopf wieder zum Vorschein kam. »Sie
stand auf der anderen Seite der Mohammed V, wo zwischen FedEx und DHL eine schmale
Gasse abzweigt, die eigentlich nur in einen Hinterhof führen kann, und hat mit
einem Fremden gesprochen.«
»Einem
Fremden?«, wiederholte Fanni. »Du meinst, es war niemand aus der Gruppe.«
Sprudel
nickte. »Die Gestalten sind einem ja inzwischen vertraut. Hubert Seeger sieht
aus wie ein Bierfass, Dieter Horn wie eine Verkehrsampel, Otto wie ein Kegel
und Bernd Freise wie ein Funkturm.«
Was
Sprudel wohl bei den Frauen für Vergleiche auf Lager hat?
»Der,
mit dem sich Melanie unterhalten hat, sah aus wie ein Lineal, trug eine
Baseballkappe, eine Regenjacke und eine verspiegelte Sonnenbrille, obwohl kein
einziger Sonnenstrahl auf Marrakesch fiel. Melanie hat ihm ein Schriftstück
gegeben.«
Fanni
musste an den Mann denken, der am Morgen draußen vor dem Café gesessen hatte.
Sie
trat ans Fenster und schaute hinaus. Die Stelle, an der Martha zu Tode gekommen
war, konnte man von hier aus nicht einsehen, weil der Zimmertrakt etwas
zurückgesetzt angebaut war. Erst auf Höhe der Apotheke wurde der Blick auf die
Stadteinwärtsspuren der Mohammed V frei. Komplett unverstellt war die
Sicht jedoch auf die gegenüberliegende Straßenseite, und Fanni konnte die
kleine Gasse, von der Sprudel gesprochen hatte, deutlich erkennen.
»Die
Gasse sieht aber überhaupt nicht einladend aus.« Fanni kniff die Augen
zusammen, um die Schutthaufen genauer zu betrachten, die den Durchgang
behinderten.
»Melanie
ist ja auch nicht hineingegangen«, sagte Sprudel. »Sie stand bloß an der Ecke –
mit dem Lineal zusammen.«
»Vielleicht
hat der Fremde sie nach dem Weg gefragt«, mutmaßte Fanni.
Sprudel
warf ihr einen zweifelnden Blick zu. »Melanie wird sich in Marrakesch wohl kaum
so gut auskennen, dass man sie nach dem Weg zum Bahnhof oder zu einem Hotel
fragen könnte. Und sie hat sich auch nicht so verhalten, als würde sie dem
Lineal die Richtung weisen. Deutet man da nicht hierhin oder dorthin?«
Fanni
stimmte ihm zu, doch dann hielt sie entgegen: »Sagtest du nicht, sie hat ihm
etwas gegeben? Den Stadtplan möglicherweise. Sie hat ihn in ihrem Stadtplan
nachschauen lassen.«
»Mag
sein.« Sprudel beugte sich hinunter, um seine Schnürsenkel zu binden. »Aber was
immer sie ihm gegeben hat, er hat es eingesteckt. Meinst du, sie hat ihm ihren
Stadtplan geschenkt?«
»Geliehen
vielleicht«, antwortete Fanni, »denn der Mann wohnt, das glaube ich zumindest,
in unserem Hotel.«
»Ach
so«, machte Sprudel.
»Und
wen hast du sonst noch beobachtet?«, fragte Fanni.
»Brügges
und Seegers«, antwortete Sprudel. »Sie sind alle vier gemeinsam in ein Taxi gestiegen.«
»Auf
der anderen Straßenseite? Richtung stadtauswärts?«, fragte Fanni erstaunt.
Sprudel
verneinte. »Sie sind plötzlich vor diesem Reisebüro aufgetaucht – ›Sahara
Tours‹ – und haben ein Taxi herangewunken. Nachdem sie eine Weile mit dem
Fahrer diskutiert hatten, ist es weitergefahren. Kurz darauf haben sie ein
zweites angehalten, in das sie dann eingestiegen sind.«
Das
ist einleuchtend, dachte Fanni. Seegers und Brügges haben sich zusammengetan,
weil wahrscheinlich beide Paare auf ein Stündchen zum Gauklerplatz in die
Medina fahren wollten – wo alle Touristen hingehen, um sich dort in eines
der Terrassencafés zu setzen und das bunte Treiben rundherum zu beobachten.
Aber dazu mussten sie ein Taxi finden, und die Suche
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