Eselsmilch
durchlässigeren Ausläufer der
Menschenmenge erreicht hatten. Hubert und der Rest der Reisegruppe hatten wohl
ebenfalls eingesehen, dass sie sich aus dem Getümmel befreien mussten, denn
nach und nach fanden sich alle bei den Sitzgruppen unter der Markise ein.
Fanni
wandte sich an Hubert. »Ihr müsst den Unfall doch gesehen haben, wenn er sich
direkt vor dem Hotel ereignet hat.«
Hubert
wedelte mit der Hand dorthin, wo die Menschenmenge wogte. »Wir hatten in dem
Moment gerade keine freie Sicht auf die Fahrbahn. Am Straßenrand stand ein
Lieferwagen. Der Fahrer hat irgendwelche Kisten abgeladen. Davor hatte ein Geländewagen
geparkt und neben dem – in zweiter Reihe sozusagen – ein Kombi.«
Er
schnaufte aufgeregt. »Ich hab den Überlandbus kommen sehen. Als er heran war,
konnte ich hinter dem Lieferwagen noch das Dach erkennen, das auf einmal
ruckelte und kurz darauf stillstand. Ich dachte, eine Kiste, eine Kiste, dachte
ich.« Hubert kam aus dem Konzept, weil in diesem Augenblick Elke Knorr zu der
Gruppe unter der Markise trat.
Das
Gesicht der Reiseleiterin war aschgrau.
»Es
ist jemand von uns«, flüsterte sie. »Es ist Martha. Martha Stolzer.«
Unsinn,
dachte Fanni, Martha ist hier bei uns. Sie steht dort drüben mit Gisela und mit
Olga zusammen.
Ihr
Blick hetzte einige Meter nach links, wo sie zuvor Gisela und Olga erspäht
hatte. Die beiden waren da, starrten sie erschrocken an.
Fanni
kniff die Augen zu. Martha musste doch auch …
Sie
spürte, wie sie von Sprudels Armen fest umschlossen wurde.
»Ich
muss euch bitten, im Foyer auf mich zu warten«, sagte Elke. »Die marokkanische
Polizei will jeden Einzelnen von euch befragen.«
3
»Wir
sehen gleich im Café nach«, sagte Sprudel. Er hatte die Zimmertür geöffnet und
hielt sie für Fanni auf. »Wenn wir Glück haben, hängt dein Tuch noch über der
Stuhllehne in der Nische.«
Fanni
nickte stumm und ging mit etwas wackligen Knien in Richtung Treppe.
Das
Café erwies sich um diese Zeit als leer, nur aus dem angrenzenden Restaurant
war Stimmengewirr zu hören.
Ein
einziger ausgiebiger Blick in den Raum hinein genügte, um zu erkennen, dass
sich auf keiner der Stuhllehnen ein rotes Tuch befand.
»Schade«,
sagte Sprudel, »jemand hat es sich geschnappt.« Er wandte sich an den Kellner –
Fanni glaubte zu erkennen, dass es ein anderer war als der am Morgen –,
doch der tat so, als würde er Sprudels Französisch nicht verstehen. Er hob und
senkte die Schultern, rollte mit den Augen, hielt die Handflächen abwehrend vor
die Brust.
Sprudel
gab auf.
»Wir
fragen an der Rezeption nach«, sagte er zu Fanni, legte ihr den Arm um die
Schultern und führte sie ins Foyer. Dort am Tresen verstand man Sprudels
Französisch offenbar bestens, machte aber ebenfalls bedauernde, ablehnende
Gesten und erklärte, die Dame müsse ihren Schal woanders als im Hotel verloren
haben, denn sonst wäre er ihr sofort gebracht worden.
Sprudel
bedankte sich für die Auskunft, wobei seine Stimme deutlich verärgert klang.
Nachdem er für Fanni übersetzt hatte, wusste sie, warum, ohne dass Sprudel
hatte hinzufügen müssen: Wir haben es hier anscheinend mit Hellsehern zu tun,
die einem Fundstück sofort anmerken, wem es gehört. Das Tuch ist weg. Wer immer
es auch aufgelesen hat, er wird es behalten.
Im
Restaurant hatten sich sämtliche Mitglieder der Reisegruppe bereits um einen
großen runden Tisch versammelt: Seegers und Brügges, das Ehepaar Horn, Melanie
Fuchs, Elke Knorr, Bernd Freise, Gisela Stolzer und Olga Klein. Zwischen Olga
Klein und Dora Seeger gab es noch zwei frei Plätze.
Fanni
setzte sich neben die Klein-Bäuerin. Olga ergriff ihre Hand.
»Nachdem
die Polizei euch alle vernommen hatte«, sagte Elke gerade, »konnte ich die
nötigen Formalitäten so weit erledigen, dass Marthas Leichnam nun auf dem Weg
nach München sein dürfte. Die Familie ist verständigt.«
Familie,
dachte Fanni. Marthas nächster Verwandter ist ihr Schwager Toni, der Bruder
ihres ermordeten Mannes. Und ihre nächste Verwandte ist Gisela.
Quatsch!
Seit Gisela von Toni geschieden ist, ist sie mit Martha überhaupt nicht mehr
verwandt!
Wiehert
der Amtsschimmel, verspottete Fanni ihre Gedankenstimme. Es ist doch wohl egal,
ob die beiden amtlich als verwandt gelten oder nicht, dachte sie, Gisela und
Martha sitzen seit Jahrzehnten gemeinsam in der Firmenleitung von Stolzer &
Stolzer. Sie haben sogar eine Zeit lang zusammen im selben Haus gewohnt, und
trotz oder gerade wegen
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