Eskandar: Roman (German Edition)
der Esel ist so klein, dass es aussieht, als hätte das Tier sechs Beine, sagt Eskandar und bringt alle zum Lachen.
Eskandar macht es wie der Mullah, zeigt mit ausgestrecktem Arm zum Berg und genießt den Moment, als alle Augen seinem Finger folgen. Da, das da oben, sagt er, ist keine Kante, und sie ist nicht scharf, und man kann sich nicht über sie lehnen und hinunterblicken.
Morad-kadjeh, der Dorfvorsteher, der so krumm ist, dass er ohne Stock vornüberkippen würde, hat Mühe, zum Berg hinaufzusehen. Junge, warnt er, du weißt, Gott mag Lügner nicht und straft sie.
Agha, bei meinem Leben, schwört Eskandar, ich bin doch dort gewesen. Es ist flach wie das Messingtablett meiner Mutter, das sie bei dir für einen kleinen Beutel Rosinen eingetauscht hat.
Der Krumme ignoriert die Anspielung auf den Tausch zu seinem Vorteil. Stimmt es, dass diese neuen Menschen ohne Frauen in ihrem Dorf leben? Haben sie wirklich so viel zu essen? Morad-kadjeh stampft mit dem Stock auf. Ist es wahr, dass sie Wasser haben? Und ist ihr Haar wirklich gelb?
Ihre Rücken sind gerade, und sie brauchen keinen Stock zum Gehen, erzählt Eskandar, und freut sich, weil die Erwachsenen ihm zuhören. Und die Fremden haben andere Worte als wir, sagt er.
Faack, murmelt ein Mann.
Ssst, sei still, zischen andere. Lass den Jungen erzählen.
Es ist wahr, ihr Haar ist gelb, ihre Gesichter sind weiß wie Käse, und kein Bart wächst darin. Essen haben sie so viel, dass sie sogar ihre Hunde mit Fleisch füttern.
Morad-kadjeh stampft wieder mit dem Stock auf, und auch die anderen sehen Eskandar zweifelnd an.
Bei der Seele meines toten Vaters, das ist die Wahrheit. Außerdem gibt es doch sowieso keine Strafe mehr, die irgendein Gott uns noch auf erlegen könnte.
Alle lachen, und auch der Krumme kann sein Lächeln nicht verbergen. Die Fremden bestellen keine Felder, hüten keine Tiere und tun den ganzen Tag nichts als Löcher in die Erde zu graben.
Sicher suchen sie etwas, sagt der Krumme-Morad.
Eskandar zuckt die Schultern. Auf ihren Köpfen tragen sie einen umgedrehten Topf. Das tun sie, damit sie schwitzen, denn ihr Schweiß ist wertvoll. Sie sammeln ihn in weißen Tüchern, die sie in ihren Hosen aufbewahren. Sie haben Hosen und Hemden, die nicht dünn wie unsere sind, sondern so dick, dass nicht einmal der Wind durch sie hindurchkommt. Und kein einziger dieser Männer geht barfuß. Ihre Schuhe sind schwer und groß. Eskandar macht nach, wie die Farangi gehen, mit geradem Rücken und als hätten sie Klötze an den Füßen.
Erst als seine Mutter, Morad-kadjeh und die anderen nicht mehr lachen, beantwortet Eskandar die wichtigste Frage: Es stimmt. Sie haben Wasser, sagt er. Und zwar so viel, dass sie sich damit sogar die Füße waschen.
Eskandar findet heraus, dass Gott einen Plan für ihn bereithält
Der Mullah hat gelogen, sagt Eskandar zu seiner Mutter, weil ihm auch die zweite Überquerung des verbotenen Berges mit heiler Haut, samt der kostbaren Beute, einem richtigen Stück Fleisch, gelingt.
Seine Mutter antwortet nicht, hat nur Augen für das Fleisch.
Ich weiß jetzt, dass ich noch lange in dieser Welt sein werde, erklärt Eskandar. Wie du siehst, haben weder Div noch Jinn mich verschlungen, noch haben die Reiter des Arbab mich erwischt.
Sahra starrt das Stück Fleisch an, das sie versucht gar zu bekommen. Das Feuer ist mickrig, kalt und tot wie ich, murmelt sie.
Eskandar hat genug gesehen, und er weiß, wie jemand aussieht, der diese Welt verlassen muss, und ihm ist klar, seine Mutter wird bald an der Reihe sein. Das nächste Mal werde ich von den Kafar Feuerholz und noch mehr zu essen mitbringen. Eskandar stampft mit dem Fuß auf und sagt: Ich habe Hunger, faack.
Junge, sprich nicht so. Wenn Gott gewollt hätte, dass wir die gleichen Worte benutzen wie diese Lochbuddler, hätte er sie auch uns gegeben, schimpft Sahra und weiß nicht, ob es Hunger oder der dichte Rauch ist, der sie schwindlig macht.
Als ob du etwas von Gott und Schuld verstehen würdest, sagt Eskandar in der gleichen Art, wie er sie von seinem Vater kennt.
Und du sollst auch nicht sprechen wie dein Vater, sagt Sahra.
Eskandar vermisst seinen Vater nicht, jetzt aber bedauert er, dass er nicht da ist, um zu sehen, wie männlich er sich benimmt. Ich kann sprechen, wie ich will, sagt Eskandar. Schließlich bist du nur eine Frau.
Wäre ich keine Frau, hätte ich dich nicht in diese Welt setzen kön nen, sagt Sahra, legt die Hand auf ihren eingefallenen Bauch
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