Maerchen aus Malula
EINE VORGESCHICHTE
oder
VOM GLÜCK,
GESCHICHTEN
ZU FINDEN
Meine Großmutter mütterlicherseits wäre mit Sicherheit eine Heilige, hätte der Vatikan den Himmel nicht den Europäern vorbehalten. Jahrhundertelang schreckten die europäischen Päpste nicht einmal davor zurück, europäische Könige wie Ludwig IX. heiligzusprechen, obwohl dieser Tausenden Mord und Elend gebracht hatte, bis er auf einem seiner Kreuzzüge vor Tunis mit einem großen Teil seines Heereseiner Seuche erlag. Auch europäische Kriegshetzer wurden mit einem herrlichen Platz im Himmel belohnt, wie der edle Bernhard von Clairvaux, der vielen armseligen europäischen Knechten die ewige Seligkeit versprach, wenn sie einen Orientalen in die Hölle beförderten. Er selbst hauchte seine zarte Seele friedlich in seinem Kloster aus. Durch die vielen Kriege und Meuchelmorde der Könige Europas wurde der Himmel besetzt, deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn den Chinesen, Afrikanern, Arabern und nicht zuletzt meiner Großmutter kein Plätzchen freigehalten wurde. Mein Nachbar, ein alter Bauer, der 1925 gegen die französischen Besatzer kämpfte und seine Hand dabei verlor, sagte einmal zu mir, er sei im Herzen sehr fromm, doch sündige er widerwillig, bloß damit er nicht ins Paradies käme und dort unter den Europäern leiden müsse.
Doch zurück zu meiner Großmutter. Wäre sie heiliggesprochen worden, hätte man sie die »Heilige derGeduld« genannt. Sie mußte oft auf uns aufpassen und setzte sich dann immer ruhig lächelnd zu uns. Hiob hätte bei meinem Bruder und mir geflucht, aber unsere Großmutter war geduldig. Wenn meine Eltern wegen irgendeiner Beerdigung oder Hochzeit für mehrere Tage verreisen mußten, holten sie diese Großmutter. Die andere wollte zum Essen eingeladen werden, aber nie zum Kinderhüten. Sie mochte uns nicht besonders, und wir konnten sie nicht ausstehen. So kam es, daß immer die »Heilige der Geduld« uns ertragen mußte. Wenn meine Eltern verreisten, hatten mein Bruder und ich endlich Gelegenheit, all die alten offenen Rechnungen zwischen uns zu begleichen. Die Großmutter wartete, bis wir uns ausgetobt hatten, dann lächelte sie uns zärtlich an und räumte auf. Für Minuten schämten wir uns. Manchmal versagte ich mir sogar, meinem Bruder eine runterzuhauen, nur aus Mitleid mit Großmutter. Ich wußte, daß die Ohrfeige in eine Schlägerei ausarten würde, denn wir waren gleich stark. Unser Kampf ging manchmal bis zur Erschöpfung, und so ertrug ich oft seine Gemeinheiten, um dieser armen und zärtlichen Seele die Qualen des Aufräumens zu ersparen. Mein Bruder aber legte mir das als Feigheit aus, und so mußte ich ihn schweren Herzens doch immer wieder vom Gegenteil überzeugen.
Wenn meine Eltern zurückkamen, lobte Großmutter uns überschwenglich, und meine Mutter wunderte sich, wie sie uns im Zaum gehalten hatte. Allerdings wunderte sie sich dann auch jedesmal über die merkwürdige Erschöpfung von Großmutter, die tagelang im Bett lag und nur noch schlafen wollte. Wenn das keine Heilige ist!
Diese Großmutter konnte gut kochen und nähen, aber sie konnte im Gegensatz zu den anderen alten Verwandten und Nachbarn nicht gut erzählen. Wir boten ihr manchmal an, ruhig wie die Engel zu sein, wenn sie bloß eine spannende Geschichte zu erzählen wüßte, aber sie lächelte und sagte: »Ich kann nurdie vom dummen Raben erzählen!« Früher, als wir noch recht klein waren, gaben wir uns auch mit dieser Geschichte zufrieden, und sie erzählte vom Raben, der einen Pfau sah und ihn nachahmen wollte. Die Geschichte machte meinen Lieblingsvogel schlecht und endete für ihn katastrophal. Und die Moral der Geschichte? Natürlich alles so zu lassen, wie es ist. Ein Rabe ist ein Rabe, und ein Pfau ist von Geburt an König. Eine Geschichte, die ziemlich langweilig ist und sehr verbreitet war. Nicht einmal die Schulbücher haben auf sie verzichten können. Nach ein paar Jahren fragten wir nicht mehr, weil wir sicher waren, daß die alte Frau wirklich nur diese eine erbärmliche Fabel kannte.
Ein Zufall führte mich im Herbst 1984 in Nürnberg – fünfzehn Jahre nach dem Tode meiner Großmutter – an die Geschichten meines Dorfes heran. Wenn ich nun diese Begegnung mit einem meiner Zuhörer als märchenhaft bezeichne, werden es manche Leser für übertrieben halten, doch ich nenne sie so und wage eine kurze Schilderung, danach kann jeder selbst urteilen.
In einer eiskalten Nacht kam ich ziemlich erschöpft in
Weitere Kostenlose Bücher