Essen kann jeder
An den Essgewohnheiten meiner Freunde erkenne ich: Die un beschwerte Zeit der Jugend ist vorbei. Im Grunde ist die Tatsache, dass wir uns heute überhaupt Gedanken über die eigene Ernährung machen, ein Zeichen des Älterwerdens.
Noch während meines Studiums war mir das Thema Essen – vorsichtig formuliert – völlig wurscht. Ich lebte damals in einer WG mit meiner alten Freundin Sanne. Wochenlang gab es bei uns nur zwei Gerichte: Spaghetti mit Tomatensoße und Toastbrot mit Nutella. Vitamine, Ballaststoffe, ungesättigte Fettsäuren waren für uns Propagandalügen der Gesundheitsmafia. Unser Gral: die Mikrowelle. Wir aßen noch Mikrowellengerichte, da war das Gerät schon seit zwei Jahren kaputt.
Indianer essen Vogelspinnen. Das finden Sie eklig? Ich habe meine Mitbewohnerin halb gefrorene Bratensoße mit Kartoffel brei direkt vom Aludeckel einer Tiefkühlpackung lecken sehen – während sie dabei auf dem Klo saß. Noch absurder war es beim Trinken: Ingwerschnaps? Bioweizen? Ökowein? Quatsch! Hauptsache, es knallte im Kopf. Bio war höchstens der Spiritus, den ich aus dem Biologieseminar entwendete und den wir unseren Gästen als Wodka andrehten.
Irgendwann war das Studium vorbei, Sanne zog mit ihrem Freund zusammen und wurde schwanger. Und eines Tages ertappte ich Sanne dabei, wie sie aus einem Bioladen herausstolper te. Es war ihr wahnsinnig peinlich. Sanne, die alte Rock’n’Rollerin mit Demeter-Schwarzwurzeln? Da können die Hells Angels gleich anfangen, Fahrrad zu fahren und Holunderblütentee zu trinken. Ich konnte es gar nicht glauben, als ich die Schwarzwurzeln sah: »Was sind das denn für geile Teile? Kann man die rauchen?«
Und bald danach habe ich sie wieder erwischt, als sie ihren Einkauf vom Biomarkt (übrigens versteckt in einer Aldi-Tüte) heimgetragen hat. »Sanne, was hast du denn jetzt wieder ge kauft?« – »Dinkel-Cracker«, gab sie beschämt zu. »Dinkel-Cracker? Du weißt: Wer heute Dinkel-Cracker kauft, der umarmt morgen Bäume.«
Sie sagte, na ja, jetzt, wo sie schwanger sei … Sie mache es ja nicht ihretwegen und schon gar nicht wegen ihres Mannes!
Der darf sich übrigens keine Illusionen machen. Als Vater bekommt er in Zukunft sowieso nur noch das zu essen, was der Stammhalter unter den Tisch plumpsen lässt. Der Papa rangiert in der familiären Nahrungskette nur wenig über dem Staubsauger. Das sehe ich an meinem Schwager. Die Gelbwurst ist zwar vom Biometzger, aber Werner hat sie noch nie ohne Teppichmilben und Hundehaare zu sich genommen. Am eigenen Kind will man sich ja ernährungstechnisch nicht versündigen. Heute verwehrt man ihm die Extraportion Calcium – und morgen schafft es der Fruchtzwerg nicht aufs Gymnasium.
Ich sagte zu Sanne: »Sorry, aber dafür, dass du dich so gesund ernährst, siehst du in letzter Zeit ziemlich übel aus. Übertreibst du es nicht ein bisschen? Ich mache mir ernsthaft Sorgen.«
Darauf sie: »Du hast ja recht. Aber dieses verdammte Essensthema stresst mich so dermaßen! Jede Woche wird eine neue Studie wie die Sau durchs Mediendorf getrieben. Erst sind Eier schlecht wegen des Cholesterins. Dann heißt es wieder, Cholesterin im Essen macht gar nichts. Dann hat man sich gerade ein Ei in die Pfanne gehauen und liest beim Frühstück in der Zeitung, dass die blöden Dinger dioxinverseucht sind. Allein in der Stadtbibliothek gibt es 1034 Bücher zum Thema Ernährung. Und glaub mir, ich hab sie alle gelesen. Vom Kochbuch für Stillmütter bis Essen bei Reizdarm. Iss dich schön, Iss dich klug, Iss dich gesund … «
Und sie hat ja recht! Ich weiß nicht, wie viel wertvolle Le benszeit ich schon in Supermärkten verschwendet habe, nur weil ich überhaupt nicht mehr weiß, was ich kaufen soll. Ich habe mit 18 weniger über meine Berufswahl gegrübelt als heute mit 38 über ein einziges Mittagessen: Ist Margarine besser als Butter? Wie ist das überhaupt mit dem Fett? Macht Fett fett? Macht Zucker fetter als Fett? Und machen ungesättigte Fettsäuren fett – und überhaupt satt? Was ist mit Vitaminen, Spurenelementen, Ballaststoffen? Was ist mit Kreatin, Carnitin und Carotin? Warum muss ich überhaupt Antioxidationsmittel essen? Ich meine, fange ich ohne Ascorbinsäure an zu rosten? Wie soll ich mit gutem Gewissen viel Fisch für meine Gesundheit genießen, wenn die Hälfte der Meeresbewohner wegen Überfischung für immer in die Algen beißt? Lieber Fleisch kaufen? Doch welches? Ist weißes Fleisch wirklich gesünder als rotes? Kann
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