Night World - Prinz des Schattenreichs - Night World - Black Dawn
KAPITEL EINS
Maggie Neely wurde von den Schreien ihrer Mutter geweckt.
Sie war wie gewöhnlich ins Bett gegangen, die dänische Dogge Jake schwer über ihren Füßen, während die drei Katzen um den besten Platz an ihrem Kopf wetteiferten. Ihre Wange ruhte auf ihrem aufgeschlagenen Geometriebuch, zwischen den Decken verstreut lagen Blätter mit Hausaufgaben, außerdem Krümel von Kartoffelchips und eine leere Tüte. Sie trug ihre Jeans und ein geblümtes Pyjamaoberteil sowie die beiden einzigen Socken, die sie gestern Abend hatte finden können: einen Kniestrumpf aus roter Seide und eine Sportsocke aus blauer Baumwolle.
Diese speziellen Socken sollten am Ende über Leben und Tod für sie entscheiden, aber davon hatte Maggie im Augenblick noch keine Ahnung.
Sie war lediglich verwirrt und orientierungslos, weil sie so plötzlich geweckt worden war. Sie hatte diese Art von Schreien noch nie zuvor gehört, und sie fragte sich, wie sie so sicher sein konnte, dass sie von ihrer Mutter kamen.
Irgendetwas... wirklich Schlimmes geschieht, dämmerte es Maggie langsam. Das Allerschlimmste.
Die Uhr auf ihrem Nachttisch sagte ihr, dass es zwei Uhr elf morgens war.
Und bevor sie überhaupt selbst begriff, dass sie sich bewegte, taumelte sie auch schon durch ihr Zimmer, stolperte beinahe über Haufen schmutziger Wäsche und Sportausrüstung, schlug sich das Schienbein an einem Wäschekorb mitten auf dem Boden an und lief dennoch unbeirrt weiter. Im Flur war es dunkel, aber das Wohnzimmer am anderen Ende war grell erleuchtet, und von dort kamen die Schreie.
Jake trottete neben ihr her. Als sie in der Diele vor dem Wohnzimmer waren, stieß er einen Laut aus, der halb Knurren, halb Bellen war.
Maggie erfasste die ganze Szene mit einem Blick. Es war einer jener Momente, in denen sich alles für immer verändert.
Die Haustür stand offen und ließ die kalte Luft einer Novembernacht in Washington herein. Maggies Vater trug einen kurzen Bademantel und hielt ihre Mutter fest, die mit ihm rang, als versuche sie, sich zu befreien, und die ganze Zeit über stieß sie atemlose Schreie aus. Und im Flur standen vier Menschen: zwei Sheriffs, ein Ranger aus dem Nationalpark und Sylvia Weald.
Sylvia. Die Freundin ihres Bruders Miles.
Und die Erkenntnis traf sie schnell und hart wie ein Hammerschlag.
Mein Bruder ist tot, dachte Maggie.
KAPITEL ZWEI
An ihrer Seite knurrte Jake abermals, doch Maggie hörte ihn nur wie aus weiter Ferne. Niemand sonst schaute auch nur in ihre Richtung.
Ich kann nicht fassen, wie gut ich diese Nachricht aufnehme, dachte Maggie. Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Ich bin überhaupt nicht hysterisch.
Ihr Verstand hatte das Geschehen ziemlich deutlich verarbeitet, aber ihr Körper zeigte keine Reaktion, da war kein schreckliches Gefühl in ihrem Magen. Doch eine Sekunde später schlug es über ihr zusammen, genau das, wovor sie Angst gehabt hatte. Eine Welle von Adrenalin, die ihre Haut schmerzhaft prickeln ließ, und im Magen dieses grauenhafte Gefühl, als falle sie ins Bodenlose. Eine Taubheit, die in ihren Wangen begann und sich auf ihre Lippen und ihr Kinn ausbreitete.
Oh, bitte, dachte sie töricht. Bitte, mach, dass es nicht wahr ist. Vielleicht ist er nur verletzt. Das wäre in Ordnung. Er hatte einen Unfall, und er ist verletzt - aber nicht tot.
Aber wenn er verletzt wäre, würde ihre Mutter nicht dastehen und schreien. Sie wäre auf dem Weg ins Krankenhaus, und niemand hätte sie aufhalten können. Diese Idee funktionierte also nicht, und Maggies Verstand, der hin und her jagte wie ein verschrecktes kleines Tier, blieb
nichts anderes übrig, als zu seinem Flehen zurückzukehren: Bitte, mach, dass es nicht wahr ist.
Seltsamerweise kam es ihr in diesem Moment so vor, als gäbe es vielleicht noch eine andere Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass es nicht wahr war. Wenn sie sich umdrehte und sich in ihr Zimmer zurückschlich, bevor irgendjemand sie sah; wenn sie ins Bett ging und sich die Decken über den Kopf zog und die Augen schloss...
Aber sie konnte ihre Mutter nicht schreiend zurücklassen.
Plötzlich verebbten die Schreie. Ihr Vater sprach mit einer Stimme, die ganz und gar nicht nach seiner Stimme klang. Es war eine Art ersticktes Flüstern. »Aber warum habt ihr uns nicht gesagt, dass ihr Klettern gehen wolltet? Wenn ihr an Halloween aufgebrochen seid, dann sind inzwischen sechs Tage vergangen. Wir wussten nicht einmal, dass unser Sohn verschwunden war...«
»Es tut mir leid.« Sylvia
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