Europa nach dem Fall
würden an die Stelle der Brüsseler EU rücken, welchen Stellenwert werden sie in der Weltpolitik erreichen?
Das sind meiner Ansicht nach die Themen, die behandelt werden müssen, was ich – wie unvollkommen auch immer – auf diesen Seiten versuche. Bei all den Ungewissheiten sind Vorhersagen unmöglich. Der Euro und die Eurozone mögen in den nächsten Jahren gerettet werden, aber das muss nicht unbedingt Stabilität bedeuten, denn die nächste oder übernächste Krise könnte immer noch den Zusammenbruch herbeiführen. Doch wenn es zu einer Spaltung Europas kommt, müsste das nicht unbedingt das Ende eines geeinten Europas bedeuten, denn nach einer angemessenen Verschnaufpause würde wahrscheinlich eine neue Initiative gestartet werden. Das Gleiche gilt für den Fall, dass die Eurozone eher früher als später verschwindet. Wenn die Finanzmärkte bei den kommenden Entwicklungen eine negative Rolle spielen sollten, ist ihr Überleben in der gegenwärtigen Form zweifelhaft.
Es gibt eine beinahe unbegrenzte Zahl von Möglichkeiten, doch es scheint mir so zu sein, dass die entscheidenden Punkte nicht die hinsichtlich der Wirtschaft und Finanzen des Kontinents getroffenen technischen Entscheidungen sein werden, sondern die tiefgreifenderen politischen und psychologischen Faktoren – werden Nationalismus oder Postnationalismus, Dynamik oder Erschöpfung in Europa die Oberhand gewinnen? Es gibt Trends, die sich mit einem gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit vorhersagen lassen, aber es gibt auch die Imponderabilien, die sich nicht messen oder abwägen, geschweige denn vorhersagen lassen, weil sie plötzlichen Veränderungen unterworfen sind. Und offenbar werden die Imponderabilien entscheidender sein.
Das Europa, das ich kenne und über das ich vor fünf Jahren geschrieben habe, ist im Verschwinden begriffen. Was wird an seine Stelle treten? Die Bedeutung Europas in der Welt hat abgenommen, aber es hat womöglich noch eine Zukunft, wenngleich offensichtlich eine bescheidene, etwas zwischen einer Regionalmacht und einem in der Tat wertvollen Museum. Einstweilen stimme ich trotz allem eher Alfred Lord Tennyson zu, der in Locksley Hall schrieb: »Lieber fünfzig Jahre Europa als eine Periode Cathay« [Cathay: China, besonders Nordchina; veraltet].
An Europas Vergangenheit ist vieles bewundernswert, sogar in seinem derzeitigen Schwächezustand. Aber ich bin mir nicht mehr so sicher, in welchem Umfang Tennysons Empfindungen von einer Mehrheit der Europäer geteilt werden, in welchem Maß noch der feste Glaube an die europäische Identität, das europäische Modell und die europäischen Werte besteht – und ob vor allem der Wille besteht, sie zu verteidigen. Stattdessen herrscht der tröstliche Gedanke vor, dass andere Teile der Welt sich auch im Niedergang zu befinden scheinen. Die gegenwärtige Krise ist nicht vorrangig eine Schuldenkrise, mehr im Vordergrund stehen – mögen »europäische Werte« auch noch so oft angerufen werden – Willensschwäche, Trägheit, Ermüdung und Selbstzweifel sowie mangelndes Selbstvertrauen, was auf die psychologische Diagnose eines schwachen Ego hinausläuft.
Europa nahm, so wie andere Mächte früher, während einiger Jahrhunderte eine Vorrangstellung in der Welt ein; damit ist es nun vorbei. Aufstieg und Niedergang hat es immer in der Geschichte gegeben. Supermächte haben im Unterschied zu Universitätsprofessoren kein Amt auf Lebenszeit. Die Ursachen kollektiver Erschöpfung sind vielfältig und lassen sich ausführlich diskutieren. Aufstieg und Niedergang sind auch seit alters studiert und kommentiert worden. Zu Anfang der Neuzeit hat Giambattista Vico in seinem berühmten und einflussreichen Scienza Nuova behauptet, die Geschichte verlaufe in wiederkehrenden Zyklen – aufgeteilt in ein göttliches, ein heroisches und ein menschliches Stadium. Dass Europa in einem postheroischen Zustand ist, versteht sich von selbst, aber wer kann schon mit Überzeugung sagen, welches Stadium Europa nun erreicht hat und welches das nächste sein wird?
Womöglich hat Robert Cooper recht. Er hat seit langer Zeit immer wieder Ratschläge zur EU-Außenpolitik gegeben. Seiner Ansicht nach ist Europa postmodern, glaubt an friedliche gegenseitige Abhängigkeit und moderne Kooperation, wohingegen die Politik der anderen (im besten Fall) in Ideen traditioneller Einflussbereiche und einem Gleichgewicht der Mächte verwurzelt ist. Doch wie wird die Postmoderne in einer vormodernen oder modernen Welt
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