Europa nach dem Fall
sei eine aufstrebende Supermacht in einer bipolaren Welt, und wahrscheinlich tut es gut, solche erbaulichen Botschaften in einer Zeit des Verderbens und Ersterbens zu hören. So wird verkündet, dass Europas Einfluss in der Welt aus mehreren Gründen zunimmt, unter anderem, weil die materiellen und ideologischen Konflikte zwischen Europa und den anderen Mächten abnehmen. Der europäische Kontinent lebt in Frieden. Alle namhaften Regierungen wollen die europäischen Sozialnormen übernehmen und den Weg der Demokratie und kooperativer internationaler Beziehungen gehen. Wie gewaltig doch die Mächte der menschlichen Selbsttäuschung sind. Bezeichnend ist die apokryphe Geschichte eines hochrangigen Beamten im britischen Außenministerium, der sich über die ständigen Warnungen seiner untergeordneten Kollegen vor einer Kriegsgefahr ärgerte und verkündete, dass er 40 Jahre lang, von 1910 bis 1950, im Amt gewesen sei und seine Ruhe gehabt habe, bis auf zwei relativ kurze, unerfreuliche Unterbrechungen – 1914 und 1939.
Es ist leicht, viel zu leicht, sich aus heutiger Sicht über die Illusionen von gestern lustig zu machen. Die Nachkriegsgenerationen der europäischen Eliten wollten demokratischere Gesellschaften schaffen. Sie wollten die Auswüchse von Reichtum und Armut eingrenzen und grundlegende soziale Dienstleistungen in einem Ausmaß anbieten, wie es die Vorkriegsregierungen nicht getan hatten. Sie wollten all das nicht nur tun, weil sie glaubten, dass sie die Moral auf ihrer Seite hatten, sondern weil sie sozialen Ausgleich als einen Weg sahen, die Gefühle von Wut und Enttäuschung einzudämmen, die zum Krieg geführt hatten. Aufruhr und Krieg hatten sie bis zum Überdruss gehabt. Etliche Jahrzehnte lang erreichten viele europäische Gesellschaften diese Ziele mehr oder weniger und hatten allen Grund, darauf stolz zu sein. Europa war ruhig und zivilisiert, kein Kriegsgeschrei und auch kein drohender Bürgerkrieg. Das Konzept des Wohlfahrtsstaats war bewundernswert. Seine politische Ökonomie fußte auf der Annahme eines permanenten Wirtschaftswachstums, fast so etwas wie ein Schneeballsystem, jedoch kein unvernünftiges oder unehrenhaftes.
Worauf beruhte Europas Erfolg? Zum Teil auf schmerzhaften historischen Erfahrungen in jüngster Zeit, den Schrecken von zwei Weltkriegen, auf den Lektionen aus Diktaturen wie Faschismus und Kommunismus, die nie wieder auftreten dürften. Doch vor allem beruhte er auf einem Gefühl europäischer Identität und gemeinsamer Werte. Wie sah diese Identität aus und wie ließen sich die gemeinsamen Werte definieren? Oder gab es schlicht nur gemeinsame materielle Interessen? Schließlich nahm die Europäische Union als wirtschaftlicher Zusammenschluss der Eisen-, Stahl- und Kohleindustrie ihren Anfang. Jean Monnet, der »Vater« der Union, sagte später allerdings, wenn er noch einmal von vorn beginnen könnte, würde er den Schwerpunkt eher auf die Kultur als auf die Wirtschaft legen. Aber er begann mit der Wirtschaft, und dieser Ansatz war wahrscheinlich ganz vernünftig.
Unter den am häufigsten erwähnten europäischen Werten und Grundrechten waren die Achtung der Menschenwürde, die Rechtssicherheit, Frieden, Umweltbewusstsein und, vielleicht an erster Stelle, Toleranz – die Bereitschaft, die große Diversität der europäischen Kultur zu akzeptieren. Doch waren diese Werte spezifisch europäisch? 67 Prozent der Europäer waren der Meinung, sie wären spezifisch europäisch, verglichen mit anderen Kontinenten. Doch so eine Antwort war möglicherweise irreführend – mehr als die Hälfte der Europäer bezweifelte, dass es eine gemeinsame europäische Kultur gebe.
Warum war die europäische Integration so schwierig? Sie musste das überwinden, was einige das künstliche Konzept eines Nationalstaats nannten. Doch Nationalstaaten hatten sich im Lauf der Jahrhunderte entwickelt; womöglich wären die Welt und Europa ohne sie besser gefahren, aber es war gewiss kein künstliches Konzept. Umgekehrt ließe sich argumentieren, dass eine Gemeinschaft aus Völkergemeinschaften künstlich sei. Alle Untersuchungen haben ergeben, dass 90 Prozent der Europäer sich dem Ort und dem Land verbunden fühlen, in dem sie geboren wurden, aber weit weniger einer größeren Institution mit einer anderen Lebensart und einer anderen Sprache. Einer 1996 durchgeführten Eurobarometer-Untersuchung zufolge fühlten sich nur 51 Prozent der Europäer »europäisch«, und das scheint sich seitdem nicht
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