Europa nach dem Fall
zu erzielen, wäre eine viel engere Zusammenarbeit der Länder Europas notwendig gewesen und dazu hatte die Bereitschaft gefehlt. Wenn man die Ergebnisse der Umfragen betrachtet, die von Institutionen wie dem Eurobarometer durchgeführt wurden, so zeigt sich, dass die Europa-Begeisterung in den verschiedenen Ländern, die nie überwältigend hoch gewesen war, im letzten Jahrzehnt rückläufig wurde. Von einer europäischen Solidarität konnte kaum die Rede sein, jede Regierung bemühte sich, die besten Bedingungen bei Verhandlungen herauszuschlagen und wurde darin von der öffentlichen Meinung unterstützt.
Die Einsicht von der Notwendigkeit eines engeren Zusammenschlusses wurde nur von Minderheiten geteilt – den Euroeliten, und auch das nicht immer. Warum das so war (und ist), das wird den Historikern der Zukunft wahrscheinlich noch viel Kopfzerbrechen bereiten. Warum hat Europa so viel von seiner Dynamik und seinem Selbstbewusstsein verloren? Ist eine Erholung wahrscheinlich, und wenn ja, unter welchen Umständen? Die Erkenntnis, dass Sorge um Europa keineswegs mit Ablehnung und Feindschaft zu tun hatte, sondern im Gegenteil häufig auf echter Sympathie beruhte, war in diesen Kreisen lange nicht aufgekommen. Das heutige Europa stellt viele Fragen und für Antworten ist es wohl zu früh.
Dieses Buch ist aus dem Bemühen heraus entstanden, Europa von außen zu betrachten. Manchmal schärft die Distanz den Blick und die Urteilskraft. Doch das Gegenteil kann durchaus der Fall sein. Amerika kann als Fallstudie dienen. Das Interesse Amerikas an Europa war sehr groß – bis vor einigen Jahren.
Viele Studien haben sich mit den Lehren des europäischen Projektes (wie man es nannte) befasst. Für die Republikaner war Europa das abschreckende Beispiel; der Sozialstaat hatte Europa ruiniert. Mit das Schlimmste, was man über einen Politiker (wie etwa Präsident Obama) sagen konnte, war, dass er zu europäisch war, dass er Amerika zu einem zweiten Europa machen wollte.
Solche Behauptungen, von wenig Sachkenntnis getrübt, wurden mit der Krise immer heftiger und übertriebener. Doch auch bei den Linken und den Europa-Experten waren die Fehlurteile lange Zeit die Regel, nicht die Ausnahme. Da hieß es, dass fast alles in dem neuen Europa hervorragend und nachahmenswert sei. Europa war das, was Amerika sein sollte. Europa war eine moralische Supermacht, das 21. Jahrhundert würde das Jahrhundert Europas sein. Die ganze Welt würde sich bemühen, dem Beispiel Europas zu folgen. Alle diejenigen, die die Schwächen Europas aufzeigten, waren hoffnungslose Reaktionäre. Man brauchte sie nicht ernst zu nehmen.
Solche Meinungen waren in Amerika bis vor etwa fünf Jahren gang und gäbe, dann aber begann der schnelle Rückzug der meisten Europa-Optimisten, der manchmal sogar zu weit ging. Nur einige Unentwegte beharrten auf ihren Fehldiagnosen und falschen Prophezeiungen; Fehler einzugestehen widerstrebt der menschlichen Natur.
Politische Analysen und Einschätzungen sind nun einmal häufig von Wunschdenken beeinflusst. Das hat sich in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, nicht nur in Bezug auf Europa, sondern auch, was den »Arabischen Frühling« betrifft, um ein anderes Beispiel zu nennen. Wie kann es auch anders sein, denn mit Hoffnungslosigkeit als Basis lässt sich Politik nicht betreiben. Auch diejenigen, welche politische Entwicklungen kommentieren, werden die optimistische Philosophie des »Als ob«, die Philosophie der nützlichen Fiktionen brauchen können. Das Schlimmste trifft nicht immer ein, wie ein französisches Sprichwort sagt. Europa wird sich erholen, auch wenn es nicht mehr die Weltmacht von gestern und das alte Europa sein wird. Wann das sein wird und wie dieses neue Europa aussehen wird, wissen wir leider nicht.
Walter Laqueur
Washington, D.C., Juni 2012
Einführung
Es ist wohl nicht der beste Zeitpunkt, um über den Zustand Europas zu schreiben, wenn es von so vielen Krisen geschüttelt wird und seine Zukunft wie die anderer Kontinente unsicher ist. Wird es in fünf Jahren noch in seiner gegenwärtigen Form existieren? Ich habe vor langer Zeit gelernt, dass eine Krise gewöhnlich die Zeitspanne zwischen zwei anderen Krisen umfasst, aber die gegenwärtige scheint erheblich gravierender als diejenigen zu sein, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg durchgemacht hat. Meine Erinnerungen an Europa reichen zurück bis in die Kindheit und Schulzeit in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Ich verließ
Weitere Kostenlose Bücher