Der Teufel in dir: Thriller (German Edition)
Wenn du an diese Nacht zurückdenkst, an diese seltenen Augenblicke der Gnade, wenn das Gewicht deiner Sünden unerträglich wird und dein Herz sich vor dem Licht verstecken will, rasen die Bilder mit höllischem Lärm vorbei, als hättest du alles von einem vorbeifahrenden Zug aus gesehen und gehört. Es kommt dir so vor, als wärst du nur ein Beobachter der Schrecken, die sich in dem feuchten, blutigen Keller zugetragen haben, und nicht an einer Tat beteiligt, bei der zwei Menschen starben.
Wenn du an diese Nacht zurückdenkst, wird dir die volle Schuld der Lebenden bewusst.
In der Kirche halten sich zu dieser frühen Stunde nur drei weitere Büßer auf: ein älterer Mann in einem zerknitterten grauen Anzug, der in der ersten Bankreihe sitzt und dessen Einkaufstasche geduldig in der Reihe hinter ihm wartet; ein Mann und eine Frau Anfang zwanzig, beide kniend, mit geschlossenen Augen und flehend gefalteten Händen. Die Aura der Trauer und des Verlusts, die sie umhüllt, ist beinahe sichtbar.
Du hast die Geschichte so oft wiederholt, dass sie allmählich einer Fabel ähnelt, deshalb möchtest du sie nicht erzählen. Es war ein brutaler Albtraum, und nun, da du weißt, dass du die Worte zum ersten Mal laut sagen wirst, spürst du, dass sich etwas in dir regt.
Du hältst einen Rosenkranz in der Hand, betest aber nicht, lässt die Perlen nur durch die Finger gleiten, damit die Hände etwas zu tun haben, damit sie nicht zittern.
Dreißig Jahre.
Wie können dreißig Jahre in einem einzigen Sonnenaufgang verglühen?
Nun stehst du im Herbst des Lebens, deine Kinder sind schon lange aus dem Haus, deine Freunde tot oder liegen im Sterben, und die Liebe deines Lebens ruht seit drei kalten Wintern unter der Erde.
Vielleicht wird dies der Tag deiner Beichte sein, deiner Absolution, ein Tag, der dich in eine Zeit zurückführen wird, als alles noch möglich schien, als du eine geachtete Mitarbeiterin des Philadelphia Police Departments warst und auf Erden noch nicht die Hölle ausgebrochen war.
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1.
Ehe die Nacht das junge Mädchen mit ihren großen, schwarzen Flügeln umschloss und das Blut sein heiliger Wein wurde, war es in jeder Beziehung ein Kind des Lichts. Jenen, die das Mädchen in diesen Jahren kannten, schien sie ein fleißiges, ruhiges und höfliches Kind zu sein. Manchmal beobachtete sie stundenlang die Wolken und war – wie nur ganz junge Menschen es können – blind für die schreckliche Armut ringsum, die Ketten, die sie und ihresgleichen über fünf Generationen zu Sklaven gemacht hatten.
Das Mädchen war sechs Jahre alt, ehe es ein eigenes Paar Schuhe trug. Ihr erstes Kleid bekam sie mit acht.
Die meiste Zeit lebte das Mädchen innerhalb der hohen Steinmauern seiner Gedanken, einem Ort, an dem es keine Schatten und keine Dämonen gab.
Als sie dreizehn war, begegnete sie in einer mondlosen Nacht, als die Kerzen gelöscht waren, zum ersten Mal der Dunkelheit. Es war nicht die Dunkelheit, die auf den Tag folgt und die sich mit einem schwarzvioletten Schimmer auf die Erde senkt – es war die Dunkelheit, die in jenen Menschen lebt, die auf abgelegenen Straßen reisen und die Verrückte, Gefallene und Unredliche um sich sammeln, deren Leben sich in der Gosse abspielt.
In dieser Nacht wurde ein Samen im Geist und im Körper des Mädchens gesät.
Und nun, viele Jahre später, weiß die junge Frau, dass sie an diesen Ort des Elends und der Erbärmlichkeit, in dieses Haus der sieben Kirchen gehört.
Hier gibt es keine Engel.
Auf diesen Straßen wandelt der Teufel. Sie kennt ihn gut – sein Gesicht, seine Berührung, seinen Geruch –, denn nach ihrem dreizehnten Geburtstag, als Gott sich abwandte, wurde sie dem Teufel übergeben.
*
Sie hatte den jungen Mann über eine Woche beobachtet. Zum ersten Mal sah sie ihn in der Broad Street, eine hagere Gestalt, die sich vor einer Granitmauer abzeichnete. Er war Bettler. An seinem ausgezehrten, beinahe skelettartigen Körper und seiner gespenstischen Gestalt war nichts Bedrohliches. Er murmelte wirres Zeug, wenn er Passanten und Pendler ansprach, die den Bahnhof betraten oder verließen. Zweimal wurde er von Polizisten begleitet. Er leistete keinen Widerstand, gab keine Antworten. Sein Verstand schien von Rauschgift zerfressen zu sein, sodass er den Versuchungen der Straße hilflos
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