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Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Das war die Ribbentrop-Molotow-Linie. Um dreiundzwanzig-siebenundvierzig hatte die Säuberung unserer jeweiligen Sektoren begonnen. Sogenannte »nationale Politiker«, bürgerliche Demokraten, chauvinistische polnische Elemente, Intellektuelle, Kulaken, Offiziere und Juden wurden unschädlich gemacht. Dann kam der Glockenschlag zur Mitternacht, und die dicke Akte, die noch immer offen auf dem Schreibtisch des Schlafwandlers lag, eine Akte, so unheildräuend schneefarben wie das auf uns zukommende Russland, wurde abgehakt und mit dem Adler gestempelt: Der Fall Weiß war geschlossen.
    Als Nächstes kam die Akte Unternehmen Barbarossa. Furchtsam legte eine seiner Sekretärinnen sie ihm an den Rand des großen Schreibtisches. – Danke, meine liebe Traudl, sagte der Schlafwandler und bot ihr ein kleines rundes Törtchen an.
    Die Akte war in diesem Stadium noch recht dünn. Das einzige Blatt zeigte eine Architekturzeichnung, ganz akkurat ausgeführt, aber auch stimmungsvoll, die eine Ahnung davon vermittelte, wie man die Schaltstelle Europa in einen kopfsteingepflasterten Innenhof verwandeln könnte, weiß wie Licht, mit einer strengen Zweierreihe tiefschwarzer Schatten, die vor einem dunklen Tor auf Einlass warten; sie würden nie wieder herauskommen.
    Am Ende, sagte sich der Schlafwandler, bin ich genötigt, entschlossen zu handeln. Ich muss alles panzersicher machen. Jederzeit könnte ein Irrer oder eine jüdische Krebszelle mich ausschalten. Und wer weiß, wo dies dann alles enden würde?
    Und so wurde das Unternehmen Barbarossa aufgeblättert, in dem unsere Alpträume alle doppelt zensiert wurden wie die Postkarten mit den Totenköpfen, die wir nach Hause schickten. Das Telefon läutete und verlangte von den Frontstaffeln des Abschnitts L die Losung. Stahl begann aus Deutschland nach Russland hineinzuklappern.
    2
    Leningrad blieb nahezu unangetastet, unglücklicherweise. Die Heeresgruppe Nord hatte es an den Ecken angeknabbert – mehr konnten wir nicht ausrichten. – Wir müssen diesen Eisenbahnknotenpunkt einnehmen, murmelte der Schlafwandler und blickte starr auf eine seiner Landkarten.
    Die Akte Unternehmen Barbarossa war nun schon dicker geworden. Bald würde sie unendlich groß sein, also exakt so groß wie Russland selbst; schon jetzt reichte sie dem Schlafwandler bis an den Kopf; all seine Sekretärinnen zusammen konnten sie nicht umherrollen, nicht einmal auf einem Wagen mit zehn Einlegeböden. So wie ein Eisberg monströse Brocken kalbt, gebar das Unternehmen Barbarossa die Unternehmen Blau, Wilhelm, Haifisch, Edelweiß, Fridericus, Fischreiher, Störfang, Wintergewitter, Donnerschlag, Nordlicht … Diese Akten mit ihren dazugehörigen Unterakten bildeten nun Reihen gebundener Bücher auf Etagen aus stählernen Bibliotheksregalen, deren Gänge kein Ende hatten. Was die fundamentale Frage anging, Barbarossa selbst, egal, wie viel ihm davon abzuhacken gelang, er kam nicht an sie heran; sie schwoll immer weiter an, wie eine trächtige Leiche. Lange nach Mitternacht, als das Geschnatter seiner Alten Kämpfer ihm tief in Träume versunken war, saß der Schlafwandler allein in der Reichskanzlei und rollte jene weißen Russlandkarten aus, die er mit seinen eigene Blaupausen übermalen wollte: Zeichnen wir hier oben noch eine Angriffsspitze ein! Das Wappen unserer 14. Panzerdivision ist die pfeilspitzige Rune Othala, die Besitz bedeutet. Abergläubisch richtete der Schlafwandler sie immer gen Osten. Und die 19. Panzerdivision, die markieren wir mit der umgedrehten Blitz-Rune Yr, Tod , und schlitzen sie mit einem Querstrich auf. Tod ihnen allen! Vielfältig hätte er es in das Weiß ritzen mögen, aber er widerstand der Versuchung. Die 7. Panzerdivision ist ein Y, eine Vulva; die halten wir in unserer Nähe. Die 23.
und 22. sind Pfeile; wir werden sie beide auf Moskau richten.
3 Nun binden wir dort unten noch einen Satellitenstaat ab; ganz recht, mit Ligaturen aus Stacheldraht. Die grausig roten Blutgefäße müssen ausgebrannt, alles muss mit Edikten und Prachtstraßen niedergedrückt und in deutsche Bauerngehöfte aufgeteilt werden. Nun ist das Land kaltgestellt; eine kleine Kommandosache, das kann jeder. Und doch, wie gigantisch er seine Wehrhöfe auch anlegte, wie weit er seine Arterien auch verlängerte; Barbarossa wuchs über sie hinaus. Er zog Armeen zusammen und injizierte sie in Barbarossa, wo sie sich zu Karrees ausdehnten, zu Pfeilen und kanonenstarrenden Igeln; Barbarossa verdünnte sie zu kleinen

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