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Ölfelder des Kauskasus ab und schickte ihn nach Norden, um Leningrad zu knacken. Feldmarschall von Manstein höchstpersönlich reiste an – ein sicheres Zeichen, dass der Schlafwandler in Berlin langsam aufwachte. Feldmarschall Ritter Wilhelm von Leeb hatte vor sieben Monaten um seine Ablösung gebeten; er war nicht in der Lage gewesen, die Stadt, wie befohlen, auszuradieren, und unsere Gegenoffensive hatte hunderttausend seiner Männer ausgeschaltet. In drei Jahren würde der alte Herr in einem Mannheimer Gefängnishof hocken und jeden Schützengraben, jede Stellung von einst im Schlamm nachzeichnen, um seinen Feldmarschallskollegen, den Wlassowiten und-Leuten zu beweisen, dass er anno 1941 in Leningrad hätte einmarschieren können, hätte Hitler sich nicht so dilettantisch eingemischt. Das mag stimmen. Jedenfalls, man hatte ihn zuerst gegen Feldmarschall Busch ausgewechselt, dann gegen Generaloberst von Küchler, die beide nicht die Klasse von Mansteins besaßen, auch wenn Letzterer ein recht guter Dirigent gewesen zu sein scheint, der unserer halb zerstörten Stadt manch militärisches Brandzeichen aufsetzte, ohne jedoch ihren Widerstand brechen zu können. Ganz unserer neuen Losung entsprechend: Leningrad fürchtet den Tod nicht, der Tod fürchtet Leningrad! Für uns ein Grund mehr, ihnen Schostakowitschs 7. Sinfonie ins Gesicht zu knallen!
Aus Moskau entliehene Artilleriegeschütze (die Rohre im Fünfundvierzig-Grad-Winkel aufgestellt wie Fagotte) sollten die Faschisten eine Weile in Schach halten, damit sie die Große Philharmonie nicht in Schutt und Asche legten. Das erwies sich als kluge Vorsichtsmaßnahme, denn tatsächlich befahl General Friedrich Ferch, Stabschef der 18. deutschen Armee, eine Beschießung, als er merkte, dass seine Männer am Radio zuhörten. Dass die Beschießung erfolglos blieb, ist uns zu verdanken. Ich habe gelesen, auch General Ferch habe Radio gehört, ohne sich zu rühren, als warte er auf eine Ansage. Von Küchler wurde dagegen an jenem Tag ganz melancholisch und sollte bis zum Ende die
ses Krieges, von dem seines Lebens ganz zu schweigen, nicht mehr glücklich werden. Und so kauerten sich die Faschisten in ihre Schützengräben unter dem goldenen Gras, das Glitzern der Sonne auf den dunklen Helmen, und sahen zu, wie der Himmel sich vom Rauch der russischen Panzer schwärzte, die sie abgeschossen hatten. Ihre Mörsergranaten verstummten; langsam ging ihnen die Munition aus.
Und sie stieg auf aus Leningrad und zog immer weitere Kreise, unsere Sender verstärkten künstlich ihre Induktivität, um ihre Dämpfung zu verhindern, wandelten sie um in reine Elektrizität, so dass sie eine einzelne menschliche Stimme hätte sein können (die des Genossen Stalin zum Beispiel), deren harmonische Komponenten ganz in analoge Signale umgewandelt worden waren, die alle feindlichen Störgeräusche um fünfunddreißig Dezibel oder mehr übertönten! Die Große Philharmonie, jenes öde gelbe, nicht sonderlich reich geschmückte Gebäude mit seinen wenigen ausgeblichenen Rokoko-Verzierungen, bildete nun das Hirn unseres nationalen Telefons; und Schostakowitsch hatte die niederfrequenten Wellen seines ungeheuren Signals auf eine Weise miteinander verflochten, dass sie die Befehle der automatisierten Leitstelle so schön und so laut wie möglich übermitteln konnten, in einem so beruhigend stetigen Rhythmus wie Rotarmisten, die mit präsentiertem Gewehr am trapezförmigen Sockel unseres ehernen Reiters vorbeimarschierten. Der erste Satz, bis zum Rattenthema recht zart und idyllisch, hier und da mit einer Tagträumerei, die mir die Schattenrisse der alten Türme Nowgorods bei Sonnenuntergang ins Gedächtnis ruft, erinnerten die deutschen Faschisten an ihre eigenen Landschaften, denn sie sollte er schließlich ansprechen, sanft wie die Stille in der Leitung, nachdem es spät am Abend geläutet hat. – Bist du das, Elena? – Nein, das schallende Schrillen im Innern des schwarzen Telefongesichts bedeutet, dass die Geheimpolizei sich deiner Anwesenheit versichern will, bevor du verhaftet wirst. Es ist schon zu spät.
Schostakowitsch saß in Kuibyschew und lauschte der Übertragung. Nina hielt ihm die Hand. Seine stillen Tränen wogen schwerer als Gewehrkugeln. Auf dem Fußboden spielten ganz, ganz leise ihre Kinder. Im Herzen spürte er eine vernichtende Dissonanz oder, besser gesagt, eine Acciaccatura.
Hört, Genossen, säuselte der Ansager.
Viele weinten. Leningrad wurde zu Gold.
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Die
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