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Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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des im Werden begriffenen Hauptbahnhofes würde mit Beutewaffen geschmückt sein. Sein Kino, die Opernhäuser, Hotels und Leuchttafeln gab es schon als Holzmodelle. Zur Weltausstellung 1950 sollte alles fertig sein. Himmler hatte die Lieferung der Granitblöcke garantiert.
    O, der Schlafwandler baute solide! In der Besatzungszeit würde unser Zoobunker die britischen Sieger besiegen: Sie legten zwanzig Tonnen TNT darunter, und er blieb unangetastet! Sie mussten zahllose Thermitladungen hineinbohren!
5 Und was war mit dem Berliner Dom, wo Hermann und Emmy Göring getraut wurden? Eine Ehrengarde aus zweihundert Kampfflugzeugen flog zum Ende der Zeremonie über ihre Köpfe hinweg. Der Berliner Dom war ganz gewiss noch unbeschädigt; erst 1945 sollten ihn Brandbomben treffen. Und außerdem, da wir nun wieder in den Zeiten des Krieges sind – die hohen Fenster des Schauspielhauses, die Cafés am Kemperplatz, der Steinadler und die beiden Wachtposten der Reichskanzlei, waren sie nicht alle noch da?
    Um einundzwanzig-vierzig setzte eine Fliegerbombe die Kuppel des Französischen Doms in Brand, aber um zweiundzwanzig-fünfundvierzig war Berlin schon wieder voll in Betrieb. Um dreiundzwanzig-fünfzehn hatten die Russen die Wolfsschanze noch immer nicht überrannt. Dr. Goebbels' Propagandaministerium blieb bis kurz vor Mitternacht unangetastet …
    Eine Minute vor Mitternacht wurde meine Wenigkeit von einer Frau gerettet, deren Schamhaar so weich war wie der rötliche Ziegelstaub, aufgewirbelt bei den allerletzten Explosionen im Tiergarten, als das Reich sein Ende fand. Sie gewährte mir Einlass in ihren Mutterbauch,
und die Russen fanden mich nie. Was den Schlafwandler angeht, manche sagen, er habe sich seinen Abgang selbst verschafft und sei für immer verschwunden. Das erinnert mich an den nordischen Mythos von der Midgardschlange, die ihren eigenen Schwanz verschlang. Persönlich neige ich zu der Annahme, dass er alles in der Kuckucksuhr dort drüben aussitzt. Eine russische Kugel hat ihre Zeiger um fünf vor zwölf zum Stehen gebracht.

Weit ist mein Land
    Wer diesen Film sieht, ballt unwillkürlich vor Zorn die Faust … Dieser Film wiegelt zum Kampf auf und schenkt Siegesgewissheit.
    – Roman Karmen (1942)
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    Europa ist Europa; Europa ist eine Frau. Europa trägt die Namen Marie-Louise Moskaw und Berlin Ljubowa; Europa ist Julia Jekaterinburg und Konstanze Konstantinowskaja, nicht zu reden von Danuta Deutschland, Rosa Russkaja; Europa umschließt das gesamte Gebiet von Anna bis Soja einschließlich der entscheidenden Eisenbahnknotenpunkte Nadeschda, Nina, Fanja, Friedl, Coca (deren bürgerlicher Name Elena war), Katjuscha, Verena, Viktoria, Käthe, Katharina, Bertha, Brünnhilde, Hilde und Heidi; vor allem ist Europa Elena.
    Sie war so lecker wie die weißen Lebkuchen aus Wjasma, die früher immer in der Palmwoche im alten Petersburg verkauft wurden, und konnte sich noch fast an deren Geschmack erinnern; aus ihrer Polizeiakte weiß ich viel genauer als sie, dass ihre Mutter ihr, bis sie drei Jahre alt war und unsere Revolution der Palmwoche ein Ende machte, immer ein Stückchen abbrach und in den Mund schob. Deshalb hatte sie jedes Mal, wenn sie sehr glücklich war, einen Hauch vom Geschmack des Lebkuchens auf der Zunge. Ich wiederhole: Sie war so lecker wie die weißen Lebkuchen aus Wjasma und wusste es nicht einmal! Wie so viele andere auch. Meine Exegese ihres Lebens ist die einzig gültige. Was sie auch sagen, sie war nicht blond; ihr Haar war dunkel. Im Jahr 1975 ist sie gestorben; das bestreite ich nicht. Sie war zu bescheiden, ihren Orden des Roten Sterns allzu oft zu tragen. Die Apparatschiks, für die sie dolmetschte, erkannten sie nicht wieder, wenn sie ihr auf der Straße begegneten. Ihre Kollegen ignorierten sie; der Blick ihrer Schüler reichte nie bis hinter ihre Brillengläser. Im Register jeder beliebigen Schostakowitsch-Biografie (die der Chentowa ausgenommen) werden Sie nur höchst magere Verweise auf sie entdecken, nie ein Foto. Und doch war sie die Vollkommenste von uns allen, so süß und weiß wie Lebkuchen! In Schostakowitschs ver
botenen Opern war sie der Lichtblitz in den geplagten Himmeln der Chromatik.
    Es war R. L. Karmen, der sie als Nächster bekam.
32 Geboren im gleichen vorzeitlichen Jahr wie Schostakowitsch, sagte man ihm schon in seiner Jugend nach, dass er gern breitbeinig dastehe wie ein stämmiger alter Mann, und die Rolle seines Lebens fasste er zusammen in den Worten: Wir

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