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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Strichelchen, die zarter als Wimpern auf den weißen Karten lagen. Auf seinem Schreibtisch ging ihm der Platz aus, also musste er die anderen Karten auf dem Fußboden ausrollen. Er versuchte, sie mit allen Papieren zuzukleistern, die er finden konnte. Diese Blätter ließen ihn frösteln und machten ihn müde, ein Zustand, den er fürchtete wie nichts sonst.
    Da kam der Kurier und überbrachte die neuesten schlechten Nachrichten vom Unternehmen Barbarossa. Er steuerte sein Motorrad zwischen der langen Doppelreihe glänzender Limousinen mit Käferrücken in der Wilhelmstraße hindurch (wieder war ein diplomatischer Empfang im Gange) und präsentierte den Wachen seinen Passierschein. Es war schon siebzehn Uhr. Der Kurier musste jetzt im Mosaiksaal sein. Bald würde er den Runden Saal betreten. Nein, der Schlafwandler konnte den Widerhall seiner Schaftstiefel schon immer lauter in der Marmorgalerie hören.
    Der Schlafwandler wäre gern in der Wolfsschanze gewesen. Morgen würde er dorthin zurückkehren. Dann war er für schlechte Nachrichten schwerer zu erreichen.
    Er erhob sich, ging zur Tür, wo die beiden Wachen ihre Hacken zusammenschlugen, und sagte ihnen: Ich darf nicht gestört werden. Lassen Sie niemanden ein, es sei denn, es geht um den Antikominternpakt.
    Jawohl, mein Führer.
    Er kehrte ihnen den Rücken zu und schloss die Tür. Die russische Armee war im Wesentlichen ausgelöscht. Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und wartete auf das Läuten des Telefons.
    3
    Um genau zwanzig Uhr gruben wir die Panzer bei Millerowo in strohfarbene Erdlöcher ein, damit der strenge russische Frost ihnen nichts anhaben konnte; aber Mäuse nagten die Kabel durch. Das Unternehmen Barbarossa war in einer großen weißen Explosion aus seiner Akte geplatzt, und jetzt segelten die schneeigen weißen Blätter langsam vom Himmel herab und begruben uns bei lebendigem Leibe unter Landkarten. Wir konnten sie nicht lesen.
    Um zwanzig-zehn bekam ich ein streng geheimes sowjetisches Dokument zu fassen, dessen verschachtelte hexagonale Diagramme und auf dem Kopf stehende Y-Insignien seltsam an die Skizzen des abstrakten Bildhauers Rodtschenko erinnerten; vielleicht erklärte es alles, also übergab ich es eigenhändig dem Hauptquartier; unglücklicherweise wurde das Kurierflugzeug, das es vom Hauptquartier zur Wolfsschanze bringen sollte, abgeschossen, und so …
    Um zwanzig-zwanzig schickte der Schlafwandler uns aus der Wolfsschanze per Fernschreiber eine Nachricht. Sie lautete: Der Angriff ist weniger ernst als vermutet. Ich werde die Kräfte dort unbedingt belassen. Wenn wir nur sicher sein könnten, dass die Westfront in den kommenden sechs bis acht Wochen unangetastet bleibt …
    4
    Er hatte uns versprochen, das Reich werde nie angetastet, aber nach Dresden, Berlin und allem anderen, was sollten wir da noch glauben? Um einundzwanzig Uhr war unser Außenministerium (Wilhelmstr. 76) ein vom Krieg angenagtes Gehäuse, die Fassade hier und da vom Tod ganz bis auf das weiß bestäubte Skelett zerstört; das heitere, lockenumkränzte steinerne Antlitz über dem Portal würde bald von einer russischen Rakete ausgestanzt werden; andererseits sollte sich zeigen, dass selbst die Russen nicht alles antasten konnten: Selbst als wir alles verloren hatten, würde das Zwillingsbild dieses steinernen Antlitzes noch nachdenklich auf uns Überlebende herabblicken, die wir mit gesenkten Köpfen die wie mit dem Lineal gezogenen Wurmgänge zwischen den Schutthaufen abschritten.
    Aus der Perspektive des Schlafwandlers blieb alles unangetastet und vollendet proportioniert, im Reich des Möglichen zumindest. (Dr. Morell verschrieb zwei Teelöffel Brom-Nervacit vor dem Schlafengehen.)
Vor Jahrzehnten hatte er sich die Karte der Wiener Ringstraße eingeprägt. Berlins Triumphbogen und Große Nazi-Ruhmeshalle würden all das in den Schatten stellen. Görings neues Ministerium würde bekommen, wonach Göring verlangte: das größte Treppenhaus der Welt.
4 Er sollte besser ein paar Kilo abnehmen, wenn er dort hinaufwollte! Auch Dr. Goebbels würde ein neues Ministerium bekommen. (Ich habe gehört, er sei noch immer mit der tschechischen Filmschauspielerin Lida Baarovà intim.) – Der Schlafwandler rollte Speers neuesten Bauplan aus und beschwerte ihn an den Ecken mit Panzerabwehrgranaten. Er kniete sich vor seine Soldatenhalle, die Deutschlands größte Schätze beherbergen sollte: die Krypten unserer Kaiser, Führer, Feldmarschälle. Der Vorplatz

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