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waren Soldaten, die Kamera war unsere Waffe.
3 Anders als Schostakowitsch war er von grundfröhlicher Natur und blickte nach vorn. Ein lachender Mann tanzt, greift auf einer Strickleiter nach Flaschen, während ein Ziehharmonikaspieler liebevoll zu ihm aufblickt; das ist eine berühmte Szene aus dem Film »Wolga-Wolga«, gedreht nach dem Lieblingsmusical des Genossen Stalin; viele, besonders Frauen, haben Roman Karmen mit diesem lachenden Mann verglichen. Tantchen Olga von nebenan erzählte mir gerne, etwas an seinem Bild, das gelegentlich in der Iswestija auftauchte, mache, dass sie sich resolut fühle. (Aus gutem Grund fiel sie im Jahr 1964 tot um, Leberversagen.) Man muss Karmen wirklich ein herausragendes Beispiel für die Natur unseres erfolgreichen Sowjetmenschen nennen. Den Staatspreis der UdSSR erhielt er 1942, 1947 und dann erneut 1952. Oh, er wusste, wie man lacht und lächelt!
Dieses Lächeln und die Gleichmut, mit der er bereit war, Projekte ganz nach unseren Vorgaben zu beginnen, abzubrechen oder zu revidieren, führten zu der Annahme (die seiner Karriere überaus förderlich war), dass er seinen Platz in einer Welt gefunden hatte, für die das Kino von so banaler Nützlichkeit war wie die langen Benzinschläuche, die sich in die Tankstutzen der Autos senken.
Man hat Roman Karmen einen großen Künstler genannt. Und, war er es? Als ich im Jahr 2002 Juri Tsivian anrief, den Filmexperten der University of Chicago, erging folgendes Urteil: Nun ja, man kann ihn einen offiziellen Klassiker nennen, aber als großer Filmemacher wird er nicht im Gedächtnis bleiben. Die Kapitulation von Stalingrad hat er nicht gefilmt, weil er ein großer Künstler war, sondern ein zuverlässiger Funktionär. Er war mutig und verlässlich, aber niemand, den ich bewundern würde.
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Armer Karmen! Aber was, wenn Professor Tsivian sich irrt? Und selbst wenn er recht hat, wie hätte Karmen sich verhalten sollen? Wir können im Leben immer nur unser Bestes geben. Und wenn wir an
uns glauben, wenn unser Bestes uns gefällt, sind wir dann nicht der korrekten Linie gefolgt? Und wer will behaupten, die Filmkunst sei kein Benzin? Ich kenne eine Dame, die sich ihre Filme nicht nach dem Inhalt aussucht, sondern nach der passendsten Anfangszeit. Jemand muss ihr den Benzintank füllen. Jemand muss ihren Kopf verteidigen. Wir waren Soldaten, die Kamera war unsere Waffe.
Er war knapp unter fünfzehn, als er in Moskau eintraf, im gleichen Jahr, in dem Lenin seine beiden ersten Schlaganfälle erlitt und der Genosse Stalin Generalsekretär unserer Partei wurde. Sein liebster Besitz war die Kamera, die sein Vater ihm vermacht hatte, der den Märtyrertod gestorben war.
Er schickte Fotos an die Illustrierte Ogonjok , und im Jahr 1923 erhielt er seinen ersten Presseausweis; da interviewte er Wassil Kolarow, den bulgarischen Helden. Nervös und unerfahren nahm er zu viel Magnesiumoxid; der Blitz erfüllte den Raum mit schwarzem Rauch. Das Negativ war leer, also ging er am Morgen wieder zu Kolarow ins Hotel. Vielleicht lag es an seinem Lächeln, vielleicht an seiner Ehrlichkeit oder einfach an seiner Verzweiflung. Jedenfalls, es gelang dem jungen Journalisten, Bild und Unterzeile publiziert zu bekommen. Jahrelang blieb ihm die gütige Ironie im Gedächtnis, mit der Kolarow dem jungen Mann eine zweite Chance gegeben hatte. Immer bereit, viel von sich preiszugeben, erzählte er Elena Konstantinowskaja die peinliche Geschichte, und sie lachte leise. Aus irgendeinem Grund wallte die Scham wieder in ihm auf; er verstand nicht warum; er hatte diese Anekdote so oft erzählt, dass sie wirklich nicht mehr neu war; erst als er alt wurde, begriff er nicht nur, warum es ihn beschämt hatte, ihr die Geschichte zu erzählen, sondern auch, warum sie überhaupt an die Oberfläche gekommen war: Es war ihre Güte, oh, ihre Güte.
Er fotografierte Lenins aufgebahrte Leiche und fing viele gefühlsbeladene Szenen ein, aber die ganze Macht der Bilder wurde dem jungen Roman Karmen erst später im Jahr 1924 bewusst, als er zufällig in eine von Otto Nagel kuratierte Ausstellung deutscher Kunst geriet. Zwischen dem Treibgut hing »Das Opfer« von Käthe Kollwitz. Wie soll ich diesen Holzschnitt beschreiben? Der schwarze Mantel der Mutter steht offen, und mit entblößten Brüsten bringt sie dem Tod ihr Baby dar.
In der gleichen Serie, die »Krieg« betitelt war, entdeckte Karmen, fasziniert und überwältigt, »Die Eltern«, den schwarzen Holzschnitt eines
trauernden
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