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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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empfangen und weiterzuleiten, dass ich mich bei erotischen Träumen, sogar wenn sie von LINA handelten, dabei ertappte, wie ich mir private Filmaufnahmen von ihr ansehe, aus einer Zeit, als sie noch ganz jung war, wirklich jung meine ich, wie Lisca Malbran; blass, weich und makellos sitzt sie da, die Beine gespreizt, die Augen geschlossen, die Sehnen am Hals angespannt, die Lippen dabei fast geöffnet, den Daumen in den Unterleib gepresst, während ihre anderen Finger fieberhaft daran arbeiten, sich zum Orgasmus zu bringen. Wo war ich, wenn sie das tat? Eingestöpselt in ein Schaltbrett! Vielleicht hätte sie mich mit ihrer Liebe retten können, aber auch das war Wahnsinn, denn wenn sie mich überschätzt hätte, hätte ich ihr nie gerecht werden können; wie könnte ich ein Goldener Prinz sein? Ich war nicht besser oder schlechter als alle an
deren, und alle anderen wurden abgeschlachtet, warum hätte also gerade ich gerettet werden sollen? Kurz, was sollte ich tun, wenn sie mir die Rolle des übernatürlich Edelmütigen zuwies oder wenn ich selber dies tat? Das wäre Selbstmord gewesen.
    Also wünschte ich mir, was Feiglinge sich wünschen: jeden Morgen im Biergarten unter den Bäumen zu sitzen, mit den alten Witwen, die sich keine Sorgen mehr machen mussten, weil sie schon so viel verloren hatten; sie hielten sich an ihren Tassen mit Ersatzkaffee fest oder ihren Gläsern mit Kriegswein vom Rhein; sie flüsterten einander zu, wessen Enkel an der Ostfront gefallen, welche Juden abgeholt worden waren; selbst wenn sie ausgebombt wurden, hatten sie es immer noch besser als ich. Das war das Leben, nach dem ich mich sehnte. Ich drängelte mich nicht vor, ich wollte keine Sahnetorten. Einsamkeit, ein Ziehen in den Knochen, tote Freunde, die Goldene Prinzessin musste daran nichts ändern. Sie musste mir nicht einmal Kaffee nachschenken. Ach, man hatte es nicht schwer mit mir, ich war schon mit wenig zufrieden! Und wenn dieses Wenige nicht zu haben war, wollte ich lieber noch einmal mit Rüdiger in meinem Zickzack-Graben hocken, bewacht von einem Tiger-Panzer am Horizont.
    17
    Ich wünschte mir was. Ich kniete vor meiner entzückenden Goldenen Prinzessin nieder. Als sie davon absah, mich hinzumorden, wagte ich, mich wieder zu erheben. Ich atmete tief durch. Glücklich und zufrieden bis ans Ende unserer Tage? Ich betete.
    Als ich sie küsste, begab es sich plötzlich, dass nichts von alledem wirklich geschehen war, und was ich für feindliche Panzerherden gehalten hatte, war nur ein prächtiger Haufen Herbstlaub, der an der Siegessäule über die Bürgersteige wehte.
    18
    Am 9.7.43, als die-Division »Totenkopf« in die Arbeitersiedlung Roter Oktober vordrang, die sich auf dem innersten Verteidigungsring vor Kursk befand, dem Ziel des Unternehmens Zitadelle, muss unser Schlafwandler geglaubt haben, dass die Goldene Prinzessin
ihm nun nicht mehr entkommen könne; aber am 17.7.43 musste er Zitadelle abbrechen, um sich der neuen anglo-amerikanischen Bedrohung in Italien zuzuwenden. Feldmarschall von Manstein schrieb ihm ein »Ich hab's ja gesagt«-Memorandum. Im Frühjahr 1944 enthob der Schlafwandler ihn seines Kommandos, was diesem Herrn, so wie der Krieg sich entwickelte, nur recht sein konnte. Ganz aufrechter Preuße, der er war, erduldete er seinen Ruhestand und die anschließende Haft in stolzer Zurückhaltung. In Verlorene Siege schreibt er über Zitadelle: Und so endete die letzte deutsche Offensive im Osten als Fiasko, obwohl der Feind, der den beiden angreifenden Formationen der Heeresgruppe Süd gegenüberstand, vier Mal so viel Männer durch Gefangennahme, Tod und Verwundung einbüßte.
26
    Ich habe natürlich nie zur Heeresgruppe Süd gehört. Wahrscheinlich lässt mich diese Leistung, die von Manstein tröstete, deshalb kalt. Ich habe zu Dankwart gehört, den ich oft in Russenblut gekleidet sah; zu Volker, der immer im gefährlichsten Moment darauf bestand, an der Reihe zu sein; zu Gernot, der immer den Kampf auf freiem Felde genoss; zu Rüdiger, der selbst zum Feind noch großzügig war. Wir waren alle hervorragende Panzergrenadiere, die Helmgurte festgezogen. Aber was macht das schon?
    Die Schlacht bei Prochorowka (12.7.43) gilt allgemein als eigentlicher Ort unserer Niederlage im Kursker Bogen. Dies, habe ich gehört, sei die größte Panzerschlacht der Geschichte gewesen, aber das kann ich nicht bezeugen; ich saß gerade auf einer Parkbank und küsste Lisca Malbran auf den Mund. Irgendwo nördlich von

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