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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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vertraut. Was war denn mit diesem Mann? Ihre Freundschaft war nicht so eng, wie Glikmann glaubte; was das anging,
durfte jeder, der von einer, einer, nun, sagen wir, intimen Nähe zu Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch ausging, träumen, was immer er wollte; persönlich machte es ihm nichts aus, sich mit einer Ironie zu panzern, die, nun, es geht um Folgendes: Jeder Augenblick, den er getrennt von Elena verbrachte, erbitterte sie immer heftiger; denn ihrer recht verständlichen Betrachtungsweise nach lebte er noch immer mit Nina zusammen, oder etwa nicht? Und er würde Nina niemals verlassen, auf keinen Fall. Daher hatte er kein Recht, sein Herz noch weiter aufzuteilen, und sei es für unverfängliche Freundschaften, oder? Oder? Wie oft er Angst vor Elena gehabt hatte! Wie damals, als sie einen Teller an die Wand geworfen hatte, nur weil Sollertinski anrief, oder eine seiner Partituren genommen und gedroht hatte, sie zu zerreißen, ohne den mindesten für ihn begreiflichen Grund – ach, wie er sie gehasst hatte! Oder wie er sie zumindest gefürchtet hatte …! Warum hatte es ihn dann so tief verletzt, als sie gegangen war? Nun, es war bestimmt ein Schock gewesen. Er musste diesen Schock sofort untersuchen.
    Ich muss in eine, nun ja, Illusion verliebt gewesen sein, dachte er, und es klang so abgegriffen, dass er sich fragte, in welchem schlechten Roman er das gelesen hatte. Aber es stimmte. Und er war es noch immer. Er liebte sie bis an den Rand der Qual. Und es war nicht hoffnungslos, sondern schlimmer; nie würde er …
    Vergessen Sie nicht, sagte Glikmann, der ihn trösten wollte, dass sie ja nicht Sie verlassen hat. Sie müssen logisch denken, Dimitri Dimitrijewitsch! Warum fühlen Sie sich im Stich gelassen? Sie wollte Sie heiraten, aber Sie sind zu Nina zurückgekehrt. Macht das die Sache nicht besser? Elena hat Sie nie verlassen.
    Schostakowitsch grinste seinen lieben Freund böse an und erwiderte: Das macht es noch schlimmer, Sie, Sie, Sie Schuft – nein, vergeben Sie mir, Isaak Dawidowitsch, ich … Ach, was habe ich da Garstiges gesagt! Vergessen Sie das, ich bitte Sie; das war nur ein … Verstehen Sie, ich ziehe es vor zu glauben, dass sie mich verlassen hat, denn dann hatte ich keine andere Wahl gehabt. Ich hatte keine, keine andere Wahl gehabt und hätte nicht …
    Das Telefon läutete. Es war nicht Elena Konstantinowskaja.
    2
    Unsere sogenannten »Alliierten« hatten endlich die Operation Overlord gegen die Faschisten eingeleitet; sie hatten an der französischen Küste einen Brückenkopf errichtet, in der Normandie. Fasst man es? Wir sind in Stalingrad beinahe verblutet, während sie, nun ja. Das klingt wie eine Parodie. Ihre Gefallenenzahlen müssen übertrieben sein; ich kann mir nicht vorstellen, dass es in Frankreich so gefährlich ist. Natürlich geben wir alle unser Bestes; wir tun alle, was wir können. Wie komme ich dazu, zu, zu sagen, die Amerikaner dürften nicht die zweite Geige spielen? Nina sagt, ich habe keine Ahnung. Er wollte alles über die neuesten Entwicklungen in der Prawda lesen, aber Maxim, der das Jungenalter des Unfugs und der Streiche noch nicht hinter sich gelassen hatte, ärgerte ihn damit, dass er eine Zahnbürste über die Saiten seines zweitbesten Klaviers zog; der Klang machte ihn traurig, ohne dass er wusste warum. Lebedinski, der eine strenge Erziehung genossen hatte, war entsetzt, dass er sein Kind nicht schlug, aber das brachte er einfach nicht übers Herz. – Er spielt die Klassiker!, rief Schostakowitsch und krampfte sich ein Lächeln zusammen; er hatte Angst, Lebedinski könnte ihn für seine Milde verachten. In Wahrheit brachte ihn der gespenstische, fast erotische Klang, der an das Stöhnen einer Frau erinnerte, sozusagen auf eine Idee; er konnte sich vorstellen, den Akkord in seine 9. Sinfonie einzuflechten, die beinahe vollendet war, oder in die 10. vielleicht. (Er tauchte dann in der furchterregenden 14. auf.)
    Das Telefon wollte nicht läuten. Lebedinski sah, wie er es anstarrte. Er, dessen Bruder man mitgenommen hatte, nachdem er per Telefon zu einer wichtigen Besprechung bestellt worden war, missdeutete Hass als Wachsamkeit und sagte: O ja, Dimitri Dimitrijewitsch, wie schön das ist! Auf den Genuss zu warten, den einem dieses Ding verschaffen kann, und dann …
    Ich weiß, ich weiß, unterbrach der Gastgeber erschrocken. Lebedinski schämte sich und war verunsichert. Eine Viertelstunde später verabschiedete er sich. Schostakowitsch hockte

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