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vernickelter Duschschlauch; Männer wie diesen brachte unsere Zeit hervor; in den kommenden Jahrzehnten sollte ich immer mehr von ihnen sehen. Ich will gerne zugeben, dass er mir zu viel Furcht einflösste!
Er sah mich. Mit großen Schritten kam er auf mich zu. Hätte ich eine Handgranate gehabt, ich hätte sie auf ihn geworfen.
Zum Glück gab es unter der Wand ein schauerlich schlammiges Loch, wie geschaffen für einen kläglichen Telefonisten!
Also kroch ich hindurch, und jetzt stand ich vor der Burg, die so unendlich hoch vor mir aufstieg wie der schwarze Rauch, der aus der offenen Luke eines verreckenden T-34 kocht.
Ich hätte jemanden fragen sollen, was als Nächstes zu tun war. Aber wen? Nicht den alten Krüppel, der alles wusste und immer andeutete, ich müsse ihm nur vertrauen; nicht die alte Hexe oder den sprechenden
Schädel. Ich hatte versucht, den Allvater zu fragen, aber Sie wissen ja, wie das endete. LINA hätte es vielleicht gewusst. Sie hatte sogar einmal den Osten bereist; sie hatte Linguistik studiert. Aber LINA und FREYA waren inzwischen beide außer Betrieb. Kurz, ich hatte nichts; ich war ein Niemand.
Und dennoch wartete am Tor meine Goldene Prinzessin auf mich, allein.
Warum? Warum tut eine Frau überhaupt etwas für einen Mann, der kein Held ist? Aus Mitleid.
15
Wenn man zur Viktoria auf der Siegessäule aufblickt, wird man ihrer femininen Grazie gewahr: Zart und gebieterisch zugleich streckt sie den güldenen Kranz in die Höhe. Wie aber muss man den Ausdruck auf ihrem güldenen Gesicht deuten? Zu hoch steht sie, in zu weiter Ferne. Dieses Gefühl hatte ich bei allen Frauen in meinem Leben. Die Frauen ihrerseits haben immer versucht, mich zu verstehen, aber was gibt es da zu verstehen? Ich bin, was ich bin, mehr nicht. Wenn das Sonnenlicht an einem windstillen Sonntag im Tiergarten flammengleich durch das Laub einer scheinbar unbewegten Eiche flackert, gibt es dafür keine Erklärung. Warum spüre ich den Wind nicht? Warum sehe ich nicht, wie die Blätter sich rühren? Mit mir und den Frauen ist es genauso. Rüdiger, mein zweites Ich, hat die Frauen auch nie verstanden. Deshalb war für ihn das nahezu maskenhafte Gesicht von Lisca Malbran ein Bild für alles Weibliche. Lisca Malbran in »Junge Herzen«, wie sie mir unverwandt zulächelt, ein weißes Blitzen auf den glänzenden grauen Lippen – war sie nicht die Goldene Prinzessin? Lisca Malbrans weiche nackte Schultern, Lisca Malbran, züchtig vorgebeugt, den keuschen wachen Blick auf den Filmhelden gerichtet; Lisca Malbran mit halbem Lächeln, wieder in ruhiger, eher höflicher Umarmung mit Harald Holberg in »Zwischen den Feuern« (Rüdiger sagte immer, er hasse Harald Holberg mehr als die Slawen, denn kein Mann dürfe sie anfassen); Lisca Malbran in der Zeitschrift Signal in einem hübschen weißen Matrosen-Minirock, den sogar ich, all meiner Unmännlichkeit zum Trotz, ihr herunterreißen wollte – und in der Rechten hielt sie ein aufgewickeltes Seil und kaute dabei mit lieb-entschlossenem Lächeln an ihrer Unter
lippe –, diese siebzehnjährige Lisca Malbran war eindeutig eine Viktoria, eine »Goldelse«, sollte ich besser sagen, denn so lautet der Spitzname der goldenen Statue auf unserer Siegessäule. Fast stündlich kam Lisca Malbran zur Sprache, damals, als Rüdiger, Volker und ich in unseren blankgewienerten Stiefeln auf der Straße standen, echten Tabak rauchten oder Lieder sangen, während wieder ein Dorf niederbrannte.
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Und?, sagte die Goldene Prinzessin, die Hände in die Hüften gestützt.
Natürlich hätte ich um eine V-Waffe bitten sollen, damit wir den Krieg zu unseren Bedingungen beenden und all unsere Siege und Triumphe retten konnten. Wenigstens Berlin hätte ich retten sollen. (Aber was ist Berlin schon anderes als Spinnweben und Kastanien?) Jeder anständige Deutsche hätte das gewollt. Aber ich war nicht anständig. Ich glaube auch nicht, dass Rüdiger eine V-Waffe gewollt hätte; er war auf irgendeine Art von tiefem erotischem Wissen aus. (Ihr Haar war an einem bewölkten Frühlingstag so schwarz wie die Vltava.) Aber dafür war ich nicht Manns genug; ich war nur Telefonist!
Wie konnte ich sie heim ins Reich schaffen? Was würden FREYA und LINA sagen, von meinem Vater ganz zu schweigen? Würde der Alltag nicht eine Enttäuschung für sie sein? Nein, ich will es ganz ehrlich sagen: Würde ich nicht eine Enttäuschung für sie sein? Ich war inzwischen so sehr daran gewöhnt, die Mitteilungen anderer zu
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